Von Frank Puscher
Also einmaliges Überschreiten der Blutwerte im Bereich Koffein“, sagt Sophie. „Schriftliche Verwarnung, das war´s. Einverstanden?“
2009 schrieb Juli Zeh ihren Roman Corpus Delicti, eine beängstigende Utopie im Gewand eines Thrillers, in der das mächtige zentrale Gesundheitswesen einer fiktiven Gesellschaft, Prozesse führt gegen Mitglieder dieser Gesellschaft, die sich daneben benehmen. Sie trinken zu viel und das Falsche, sie ernähren sich ungesund und sie bewegen sich zu wenig. Beängstigend deshalb, weil das Gesundheitssystem das alles weiß. Das System – bei Zeh heißt es „Methode“ – führt tägliche Körperanalysen bei seinen Mitgliedern durch. Wer zu viel Kaffee trinkt, kann seine Schuld durch eine halbe Stunde Fahrradergometer mildern. Und natürlich bleibt es nicht bei Gerichtsprozessen. Um sich zu schützen, muss die Methode auf missliebige Mitglieder der Gesellschaft leider verzichten.
Kannte Juli Zeh damals Runtastic? Wohl kaum. Die erfolgreiche Sport-App, die gemeinsam mit ihren Schwesteranwendungen für Radfahren, Bauchmuskeltraining oder Nordic Walking laut Unternehmensangaben inzwischen 46 Millionen Mal auf Smartphones installiert wurde, befand sich 2009 gerade in der Phase der Programmierung. Im kleinen Pasching, einem Vorort von Linz in Oberösterreich, erdachten vier Freunde ein System, dass vier Jahre später dazu in der Lage ist, einem Giganten wie Nike buchstäblich den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Die Idee: Man benutzt das Smartphone gleichzeitig zur umfassenden Selbstvermessung und als virtuellen Trainer. In bester Apple-Manier konzentrierte man sich aber nicht nur auf die Software sondern bastelte gleich ein komplettes Ökosystem, bestehend aus Hardware, den Apps und einer Online-Community, die inzwischen 19 Millionen Mitglieder umfasst.
Produktökosystem: Zu Runtastic gehören neben den Apps auch noch die Hardware und die Online-Community
Gründer Florian Gschwandtner fasst die für ihn wesentlichen Erfolgsfaktoren so zusammen: „Wir haben sehr schnell begonnen, international zu agieren. Das mussten wir natürlich, weil der deutschsprachige Raum zu klein ist. Amerikanische Mitbewerber konzentrieren sich häufig nur auf die USA, weil dieser Markt ja riesig ist. Dadurch konnten wir hier in Europa sehr gut Fuß fassen. Tatsächlich haben wir der Konkurrenz nie große Aufmerksamkeit geschenkt, sondern uns selbst überlegt, was wir machen wollen. So arbeiten wir auch heute noch. Wir analysieren Märkte nicht, wir probieren das aus.“
Runtastic ist eines der größten Erfolgsbeispiele im „Internet der Dinge“. Professor Wolfgang Henseler sieht im Bereich Selbstvermessung den aktuell stärksten Treiber für die autarke Kommunikation zwischen Geräten, die jeweils ans Internet angeschlossen sind. Im Falle Runtastic ist das entweder das Smartphone oder der PC, der die Daten aus der GPS-Uhr ausliest. Die aggregierten Laufdaten werden nicht nur auf der App nach dem Lauf angezeigt, sie fließen auch in eine persönliche Website und können statistisch ausgewertet werden. Und natürlich stehen sie für den Vergleich mit anderen Nutzern zur Verfügung. Sei es im Rahmen einer Laufgruppe, als indirekter Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern oder natürlich für die persönliche Dokumentation auf Facebook oder Twitter.
Der eigentliche Mehrwert
Hier zeigt sich am deutlichsten, wie sich Technik verändert hat. Es gibt jede Menge Laufuhren mit GPS-Sensoren, es gibt eine ganze Reihe von Lauf-Apps, die per GPS die Laufstrecke protokollieren und es gibt Trainings-Apps, die Trainingspläne zur Verfügung stellen und die tägliche Route vorschlagen.
Die Basisfunktionen sind in der Runtastic-App sehr einfach zu bedienen
Die Kombination aus diesen Welten und die Verbindung zu einer dynamischen Community macht Runtastic zu einem besonderen Ansatz. Geschäftsführer und Gründer Florian Gschwandtner hat genau verstanden, was die unterschiedlichen Läufertypen wann interessiert. Für Läufer, die ihr Training sehr genau steuern wollen, gibt die App per Sprachausgabe die Daten an den Läufer permanent durch. Benutzt er einen Brustgurt, so gehört auch die für den Trainingseffekt wichtige Herzfrequenz dazu. „Wer will beim Laufen schon ständig auf seinem Smartphone tippen und wischen, während er auf die Strecke schauen möchte“. Erläutert Gschwandnter die Notwendigkeit der Sprachausgabe.
Content Marketing: Über Trainingspläne köder die Runtastic Website neue User
Da die Audioschnittstelle nun einmal geöffnet war, sann man nach weiteren Nutzungsmöglichkeiten. Das Einspielen von Musik zum Lauf durch individuelle PlayLists ist relativ naheliegend. Neu ist der Online-Applaus und das Lauf-Coaching. Beides kann von einer virtuellen Trainerfigur ausgelöst werden, aber inzwischen können auch andere User den Lauf live im Netz auf Karten verfolgen und bei Bedarf akustische Motivationsimpulse schicken. Eine Art Smiley für aktive Läufer.
Auch an Nutzer, die gar kein Smartphone beim Laufen dabei haben wollen, denken Gschwandtner und sein Team. Im Sortiment der Oberösterreicher findet sich auch eine Pulsuhr, die die aufgezeichneten Daten so lange speichert, bis sie von der App ausgelesen werden. Und sogar eine Waage für die Messung von Mody Mass Index und Körperfett gehören zum Sortiment.
Runtastic, run by Axel Springer
Nach inzwischen vier Jahren ist Runtastic eigentlich kein Startup mehr. Die sportlich- und technisch interessierte Fachwelt hat die Linzer längst auf dem Radar. Auf der Computer Electronic Show in Las Vegas – eine Art IFA für die USA – wurde Runtastic bereits 2012 für eine Fahrrad-App gefeiert und landete in diesem Jahr im Mobile Apps Showdown, einer Art Hotlist im Mobilsegment.
Und dann ging es 2013 Schlag auf Schlag. Zunächst vermeldet man im Mai erstmals Downloadzahlen. Insgesamt hatte man eigenen Angaben zufolge die 30 Millionen Schallmauer durchschlagen. Im Juli dann präsentierte Google die neueste Version von Android, namens Jelly Bean. Und zur Präsentation zeigte Google die Runtastic App-Kollektion Fitness.
Die spannendste Nachricht aber folgte am ersten Oktober. Die Axel Springer AG hatte sich gerade erst von ihren Regionalblättern Hamburger Abendblatt und Berliner Morgenpost losgesagt, da flatterte eine Mehrheitsbeteiligung bei Runtastic ins Haus. „Axel Springer sichert sich mit der Beteiligung eine strategisch gute Position im dynamisch wachsenden Markt der Smartphone-Apps. Zusammen sehen wir eine Vielzahl von Verbundeffekten“, erklärt Dr. Jens Müffelmann, Leiter des Geschäftsführungsbereichs Elektronische Medien vielsagend.
Ob der Medienkonzern Runtastic enger mit Bild.de verzahnen will, wollte das Haus nicht kommentieren. Denkbar ist, dass man den Traffic aus der Läufercommunity nutz um Medieninhalte zu bewerben. Freilich geht es auch umgekehrt und der Bild-Abonnent erhält eine Laufuhr als Prämie. Vielleicht täte man aber auch gut daran, Runtastic eigenständig zu lassen, wie es Burda mit den meisten Digitalbeteiligungen macht. So würde man sicher stellen, dass die Gründer, die nach aktuellen Stand an Bord bleiben, nicht die Lust verlieren.
Florian Gschwandtner geht fest davon aus: „Der Partner ist nicht an Bord, damit wir unsere Roadmap und Strategie total umbauen. Das will Axel Springer glaube ich auch nicht, weil die wissen, dass der Erfolg eines StartUps von der Flexibilität abhängt auf Marktveränderungen reagieren zu können.“
Gut möglich, dass der Impuls, Runtastic zu kaufen, von der Springer-Delegation ausging, die im letzten halben Jahr in den USA weilte. Dort sollen Studien zufolge bereits sechs Prozent der Amerikaner beim Sport ein Gerät tragen, das ihre Leistungen protokolliert.
Auf jeden Fall ist Runtastic damit gewappnet gegen die starke Konkurrenz von Nike, die mit Nike+ (Schuhchip und App) und dem FuelBand ähnliche Wege gehen. Bislang ist das Portfoilo an Apps allerdings noch deutlich dünner.
Spannend wird freilich auch die Frage sein, inwieweit sich Runtastic für Drittentwickler öffnet und Schnittstellen anbietet. Das würde den Ausbau des Ökosystems drastisch beschleunigen, birgt aber auch Risiken. „Wir können deren Qualität nicht kontrollieren“, meint Florian Gschwandtner. Und genau von dieser Seite droht Gefahr. Sobald die Pharma- oder Versicherungsbranche den Wert dieser Form der Datenverarbeitung erkannt hat, wird eine rechtliche, aber auch eine moralisch-ethische Diskussion über deren Legitimität einsetzen. Juli Zeh kann sich heute bereits auf diverse Einladungen zu Podiumsdiskussionen freuen.