Herr Dr. Sprenger, Sie haben mit „Radikal führen“ im Grunde ein Marketingbuch geschrieben, denn Sie stellen die Problemlösung des Kunden als Zweck des Unternehmens wieder ins Zentrum. Warum ist bei vielen Unternehmen dieses Ursprüngliche und Natürliche – den Kunden im Blick unternehmerischen Tuns zu behalten – verlorengegangen?
REINHARD K. SPRENGER: Je größer und erfolgreicher ein Unternehmen wird, desto mehr entwickelt es eine Eigenlogik. Es verliert seine Außensensibilität. Vor allem das Kontrollbedürfnis vieler Manager führt dazu, dass das Unternehmen sich mehr mit sich selbst als mit dem Kunden beschäftigt. Hinzu kommen die Unternehmensberatungen, die gerne unternehmensinterne Märkte aufmachen, die viel Zeit und Energie fressen, das Unternehmen aber beim Kunden keinen Meter weiter bringen. Historisch gesehen hatte das Unternehmen einst Kundenprobleme, für das es Lösungen suchte; dann wird es zu einer Lösung, die nach Problemen sucht. Irgendwann hat dann diese strukturelle Kundenfeindlichkeit Konsequenzen.
Beim Prozess der Mitarbeiterauswahl plädieren Sie für einen „offenen Dialog“ und keine verklausulierten Bewerbungsgespräche, wie es in Unternehmen gerne stattfindet, um Bewerber eingehend zu prüfen. Laufen Unternehmen dann nicht Gefahr, auch mal Blendern aufzusitzen?
SPRENGER: Diese Gefahr laufen sie immer. Die strukturierten Bewerbungsgespräche vermitteln hingegen eine Scheinsicherheit, die das notwendige Bauchgefühl rationalisiert. Ich bin da skeptisch. Das einzig realistische Auswahlinstrument ist die Probezeit – wenn sie seriös vorbereitet, begleitet und ausgewertet wird. Und wenn klar ist: Die Entscheidung fällt am Ende der Probezeit. Nicht vorher. Aber es gibt kaum einen Manager, der die Probezeit ernsthaft nutzt. Für mich ist das ein massiver Loyalitätsbruch mit den Überlebensinteressen des Unternehmens.
Gerade aufgrund von Fachkräftemangel ist das Angebot an Bewerbern in einigen Bereichen eher mau. In diesem Zusammenhang wird derzeit gerne das Thema Employer Branding bemüht. Hat das Thema Substanz?
SPRENGER: Nein, hat es nicht. Wir wissen seit langem: Menschen kommen zu Unternehmen – aber sie verlassen Vorgesetzte. Man darf also nicht die Makroebene mit der Mikroebene verwechseln. Sie können aber noch so viel Geld in das Employer Branding investieren – wenn Sie nicht gleichzeitig die Bereitschaft und die Fähigkeit der Führungskräfte entwickeln, warme sozial-emotionale Beziehungen aufzubauen, dann können Sie das Geld direkt verbrennen. Was ist gewonnen, wenn Sie gute Leute anziehen, die aber schon bald nur noch da sind, aber nicht mehr dabei? Das Employer Branding erhöht also im schlechten Fall lediglich die Transaktionskosten.
Was können Unternehmen tun, wenn Bewerber einfach ausbleiben?
SPRENGER: Die Qualität des Bewerberpools ist entscheidend. Die wiederum ist abhängig vom Image des Unternehmens im umgebenden Meinungsklima. Dem können Sie aber nicht von außen etwas Rouge auflegen. Nein, es kommt darauf an, dass Ihre Mitarbeiter gut über Ihr Unternehmen reden. Das ist verbindlich und glaubwürdig. Ein Unternehmen, das eine Suchanzeige aufgeben muss, hat jedenfalls den Wettlauf um die Richtigen schon verloren.
Über die Art der Führung sprechen Sie sehr intensiv und nehmen gegenüber Zielvereinbarungen, Incentives, Gehaltserhöhungen oder Beförderungen als Bindungsmaßnahme eine kritische Haltung ein. Sie betonen, dass die Bindung durch die Qualität zwischenmenschlicher Beziehung insbesondere zwischen Chef und Mitarbeiter entsteht. Das aber ist gar nicht so einfach zu fassen: Welche konkreten Mittel haben Führungskräfte, Mitarbeiter dauerhaft an das Unternehmen zu binden?
SPRENGER: Gar keine. Und sie sollten auch nicht versuchen, Mitarbeiter zu binden. Alles, was man festhält, flieht. Was wäre denn gewonnen, wenn der Mitarbeiter eigentlich gehen will, aber wegen goldener Fesseln dennoch bleibt? Würdeloser kann Zusammenarbeit doch kaum sein! Nein, es geht um Selbst-Bindung. Nur wenn der Mitarbeiter sich selbst bindet, weil er zum Beispiel spannende Aufgaben hat oder seine Kollegen sehr schätzt, dann ist sein Bleiben wertvoll und produktiv für das Unternehmen.
Sind Manager derzeit ausreichend für diese Bindungsaufgaben sensibilisiert und geschult?
SPRENGER: Im Grunde wissen sie, was sie tun oder lassen sollten. Aber vom Wissen zum Handeln ist der Weg oft weit. Und es wird den Managern ja auch nicht leicht gemacht. Meistens wird ein guter Sachbearbeiter zur Führungskraft gemacht und die Führungsaufgaben kommen einfach hinzu, ohne dass die neue Führungskraft operativ entlastet wird. Zwar wird immer die Bedeutung der Führungsarbeit betont, den Führungskräften aber kaum die Zeit zugestanden, sich ernsthaft mit ihren Mitarbeitern zu beschäftigen. Viele Führungskräfte müssen oft auch noch „Vorarbeiter“ sein, sie kämpfen um wichtige Kunden, arbeiten an Projekten, erstellen Präsentationen und versuchen, die Flut der E-Mails zu bewältigen. Dieser Spagat zwischen Teamführung und Sachkompetenz ist nicht schmerzfrei zu leisten. Manches kann man sicher optimieren, einiges besser priorisieren. Kommt aber von der Kundenseite Druck, drängt sich das Dringliche vor das Wichtige. Die Mitarbeiterführung hat dann meistens das Nachsehen.
Was wird sich im Verhältnis der Führungskräfte zu ihren Mitarbeitern in Zukunft ändern müssen?
SPRENGER: Wenn sich im Verhältnis der Führungskräfte zu ihren Mitarbeitern etwas ändert, dann werden das die Märkte erzwingen. Damit meine ich Absatzmärkte und Personalmärkte. Und da diese nicht vorhersehbar sind, mag ich keine Prognose abgeben. Solange die Unternehmen gute Leute finden, die die Kontroll- und Umerziehungsexzesse mitmachen, werden die Dinge so bleiben, wie sie sind.
Mal ganz persönlich an Sie gerichtet: Was ist der größte berufliche Irrtum, dem Sie je aufgesessen sind?
SPRENGER: Ich habe lange geglaubt, Unternehmen seien Veranstaltungen betriebswirtschaftlicher Rationalität. Das sind sie nicht. Es sind vielmehr Theateraufführungen, in denen viele Spielelemente nur deshalb berechtigt erscheinen, weil sie der Organisation als Organisation geschuldet sind. Also ihrer Eigenlogik. Das Spiel mitzuspielen, ohne zynisch zu werden, das ist die Kunst.
Die Fragen stellte Christian Thunig.