Im vergangenen September sorgte eine Meldung aus der britischen Gastro-Welt für Wirbel: Stonegate, die größte Pub-Kette der Insel, führte Dynamic Pricing für das Bier am Wochenende ein. Wer sein Pint (das sind 0,57 Liter) ausgerechnet dann bestellt, wenn es im Pub besonders voll ist, muss mit einem Aufpreis von bis zu 20 Pence (23 Cent) rechnen. Weil davon rund 800 Kneipen betroffen sind, war die Aufregung groß. Die Gäste reagierten mehrheitlich ablehnend und kritisierten die faktische Einführung einer „Unhappy Hour“.
Dabei ist es eigentlich nichts Besonderes, Preise abhängig zu machen von der Nachfrage, vom Datum oder von der Tageszeit. Man kennt das von den Tankstellen, die seit jeher mit schnell wechselnden Preisen arbeiten. Auch im Internet ist die Volatilität längst Standard. Intelligente Algorithmen sorgen seit vielen Jahren dafür, dass sich die Preise vollautomatisiert anpassen – Dynamic Pricing nennt man das. Die Software kann dabei beliebig viele Informationen einpreisen.
Preissteuerung auf „Autopilot“ birgt Tücken
„Die wichtigsten Faktoren für Dynamic Pricing sind Nachfrage, Zeitpunkt, Bestand und Wettbewerbspreise“, sagt Markus Elbers, Senior Client Solution Executive AI Services bei GK Software, einem Anbieter von Pricing-Tools. Insbesondere die allgemeine Kostensteigerung habe zuletzt für eine hohe Nachfrage nach den Tools vonseiten der Onlinehändler gesorgt: „Wir haben 2023 vor allem ein gestiegenes Interesse an Up-Pricing festgestellt“, so Elbers. „Es gab viele Tests im Modebereich, wo teilweise 9 oberhalb der Unverbindlichen Preisempfehlung (UVP) möglich waren.“ Händler nutzen Dynamic Pricing also, um Preisbereitschaften nach oben auszunutzen. Aber auch, um einen zu schwachen Absatz durch niedrigere Preise anzukurbeln. Gerade in der komplexen Online-Welt mit ihrem riesigen Warenangebot und der starken Konkurrenz sind Vertriebsmitarbeitende kaum noch in der Lage, alle relevanten Faktoren zu berücksichtigen und die Preise zu steuern.
Allerdings birgt der „Autopilot“ auch Tücken: „Die Automatismen im Dynamic Pricing sollten immer mit Leitplanken versehen werden, damit es nicht zu unerwünschten Preisausreißern nach oben oder unten kommt“, rät Elbers. Zudem ist es gefährlich, abweichende Preise für unterschiedliche Shopbesucher zu machen. Man ist irritiert, wenn man auf dem Desktop und auf dem Handy unterschiedliche Tarife sieht. „Dynamic Pricing ist kein Personalisierungstool“, so der GK-Software-Manager. Dennoch ist es natürlich für den Händler interessant, zum Beispiel besonders loyale Kunden zu belohnen. Elbers empfiehlt daher: „Personalisierte Angebote sollte man eher über Couponing oder individuelle Rabattaktionen machen.“
Elektronische Preisschilder ebnen den Weg für den stationären Einsatz
Aber was ist nun mit dem stationären Geschäft? Vor allem große Händler setzen mittlerweile auf einen Omnichannel-Ansatz und wollen die Verkaufskanäle nach Möglichkeit verzahnen, etwa durch „Click & Collect“-Services. Doch wer Dynamic Pricing auch im stationären Bereich einführen will, muss diverse Rahmenbedingungen beachten. „Es funktioniert dort am besten mit elektronischen Preisschildern“, sagt Ulrich Spaan, Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter des Forschungsbereichs IT beim EHI Retail Institute. „Es ist zudem einfacher einzusetzen, wenn am Ort der Preisinformation gleichzeitig gezahlt wird. Ansonsten ist es möglich, dass ich am Regal einen Preis sehe, der nach dem Gang zur Kasse schon nicht mehr gilt.“
Die Verbreitung elektronischer Preisschilder hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Es sind unter anderem die großen Lebensmittelhändler wie Aldi, Lidl, Rewe und Edeka, die das Thema vorantreiben. Sie wollen allerdings (bislang) kein Dynamic Pricing mit über den Tag wechselnden Preisen einsetzen, um die Kunden nicht zu verunsichern. Wer traut sich?
Das EHI hat für die Studie „Technologie-Trends im Handel 2023“ persönliche Interviews geführt mit CIOs und IT-Verantwortlichen aus 92 Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ergebnis: 19 Prozent setzen Dynamic Pricing bereits stationär ein, 35 Prozent planen es. „Dynamic Pricing ist im stationären Bereich bislang nicht weit verbreitet“, resümiert Spaan. „Pilotweise wird es eingesetzt von einigen Convenience-Stores, etwa an Tankstellen, aber auch von Modehändlern.“
MediaMarktSaturn will eine harmonische Preisgestaltung
Viel Erfahrung mit Dynamic Pricing hat MediaMarktSaturn gesammelt: „Wir wenden es seit etwa 2016 mit den ersten Schritten in Richtung automatisiert angepasster Preise an“, sagt ein Sprecher des Unternehmens. „Aktuell nutzen wir Dynamic Pricing online und offline gleichermaßen. Wir übertragen die Preise analog zu online auf unsere stationären Märkte bei MediaMarkt und Saturn.“
Die Pricing-Logik orientiere sich dabei grundsätzlich am Marktumfeld: „Das heißt: Wir prüfen mehrmals täglich alle maßgeblichen Online- und Offline-Wettbewerber dahingehend, ob unsere Preise bezogen auf das Preis-Leistungs-Verhältnis wettbewerbsfähig sind, und passen sie gegebenenfalls an.“ MediaMarktSaturn ist damit in der Lage, online und am PoS schnell auf Preisentwicklungen zu reagieren. Außerdem kann so online und stationär der identische Preis ausgerufen werden. „Damit können wir auch unseren Kundinnen und Kunden das Vertrauen geben, dass wir stets den aktuellen und wettbewerbsfähigen Preis bieten“, so der Sprecher. Die automatisierte Preisanpassung stelle vor allem für die internen Prozesse eine große Verbesserung dar, „da hiermit die aufwendigen und langwierigen Routineaufgaben wie Preisvergleiche automatisiert werden und sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker auf strategische und übergeordnete Aufgaben konzentrieren können“.
Preisunterschiede bei analog und digital umstritten
Ob analoge und digitale Preise immer identisch sein sollten, ist unter Pricing-Experten umstritten. EHI-Experte Spaan sagt: „Die Preise im stationären und im Online-Bereich müssen nicht unbedingt gleich sein. Die Kunden verstehen, dass online anders kalkuliert werden kann.“ Anderer Meinung ist Tobias Maria Günter, Partner und Head of Retail beim Beratungsunternehmen Simon-Kucher & Partners. Zwar sei stationäres Dynamic Pricing ohne elektronische Preisschilder umständlich umzusetzen, „dennoch sollte man versuchen, im stationären Geschäft immer die Preise aufzurufen, die auch im Internet gelten“. Denn ansonsten bestehe die Gefahr, dass man immer wieder Kund*innen im Laden hat, die mit gezücktem Handy die günstigeren Preise aus dem Internet einfordern.
Allerdings ist es vorstellbar, dass sich der optimale Preis für ein Produkt online und stationär deswegen unterscheidet, weil ein Ladenlokal in einem „betuchteren“ Stadtviertel liegt. Aber auch für diesen Fall rät Günter ab: „Wenn einzelne stationäre Geschäfte eine zahlungskräftigere Kundschaft haben, sollte sich das nicht in abweichenden Preisen ausdrücken. Man kann darauf besser reagieren, indem man das Sortiment entsprechend differenziert und margenstärkere Artikel anbietet.“
Nach dem Parfümkauf sinkt das Preisinteresse
Wo bietet sich der Einsatz von Dynamic Pricing am meisten an? „Dynamic Pricing lässt sich am besten in Bereichen einsetzen, in denen die Kauffrequenz niedrig ist“, sagt Simon-Kucher-Berater Günter. „Wenn man ein Parfüm gekauft hat, beschäftigt man sich zunächst nicht mehr mit anderen Angeboten und bemerkt auch gestiegene oder gefallene Preise nicht.“ Im stationären Geschäft gebe es unterschiedliche Reifegrade der Akzeptanz. „Beim frischen Obst im Supermarkt kann man sich daran gewöhnen, dass der Preis gegen Abend fällt“, so Günter. „Beim Müsli dagegen reagiert man irritiert.“
Mit dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz lässt sich das Potenzial des Dynamic Pricing künftig wohl noch besser ausschöpfen. Wer über einen großen Datenbestand verfügt, kann bislang verborgene Kausalitäten entdecken und sie als weitere Parameter in die Pricing-Algorithmen einbauen. Klar ist aber ebenfalls, dass die Preistransparenz noch weiter zunimmt, da fast alles digital handelbar ist und auch gehandelt wird. „Die Kunden lernen, die Mechanismen des Pricings besser einzukalkulieren“, so Günter.
Wie geht es nun weiter? Das Tempo, in dem sich Preise verändern, wird an Grenzen stoßen. Ansonsten laufen Händler Gefahr, dass Käufe in der Erwartung fallender Preise hinausgezögert oder – wenn sie dann doch nicht fallen – sogar abgebrochen werden. Zudem können sehr volatile Preise nicht im Sinne von Markenartiklern sein, die einen gewissen, von Angebot und Nachfrage unabhängigen Produktwert in den Köpfen der Kundschaft verankern wollen. Die technischen Voraussetzungen werden insbesondere im stationären Bereich noch besser. So gut wie alle großen Händler experimentieren zurzeit mit Services wie Self-Checkout und versuchen, die örtliche Filiale enger zu verknüpfen mit dem App-Angebot. „Digitales Scanning wird auch im stationären Handel wichtiger“, prognostiziert Elbers von GK Software. „Es wird hier zu einer E-Kommerzialisierung kommen.“