Wie chinesische Plattformen den Markt verändern

E-Commerce-Plattformen aus Fernost wollen den europäischen Markt erobern. Wie können deutsche Händler gegen sie bestehen? Ein Interview mit Retail-Expertin Agnes Bührmann.
Agnes Buehrmann
Agnes Bührmann ist Retail- und E-Commerce-Expertin bei Publicis Sapient. (© Publicis Sapient)

Frau Bührmann, Temu, Shein und AliExpress verändern derzeit den E-Commerce in Europa. Was tun die chinesischen Plattformen genau?

Diese Plattformen werden von vielen Akteuren als disruptive Veränderung wahrgenommen, ähnlich dem Übergang vom stationären Handel zum E-Commerce. Sie nutzen Gamification, um ein unterhaltsames Einkaufserlebnis zu schaffen. Darüber hinaus umgehen sie die traditionellen Lieferketten: Die Kund*innen kaufen direkt bei den Herstellern in Fernost, was extrem niedrige Preise ermöglicht. Diese Anbieter halten keine Lagerbestände vor und passen ihre Kollektionen innerhalb weniger Tage an die Nachfrage an, was eine völlig neue Denkweise in der Lieferkette darstellt.

Gerade Temu steht in der Kritik, weil es die Grenzen zwischen Werbung und Glücksspiel verwischt. Nicht nur Verbraucherschützer*innen nennen das manipulativ, sondern auch die Bundesregierung. Ist das etwas, worauf sich deutsche Marken und Händler einstellen sollten?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits loten diese Plattformen bewusst oder unbewusst aus, wie weit sie gehen können. Es gibt kulturelle Unterschiede in der Betonung solcher Aspekte zwischen Asien und Europa. Deutsche Händler sollten nicht versuchen, solche Methoden zu kopieren, da dies rechtliche Konflikte mit der EU und negative Verbraucherreaktionen hervorrufen könnte.

Was sollten sie stattdessen tun?

Händler sollten sich darauf konzentrieren, wie sie Unterhaltung und Shopping auf eine seriöse und vertrauenswürdige Weise kombinieren können. Besonders die Gen Z legt großen Wert auf Vertrauen und Verlässlichkeit.

Welche weiteren Ratschläge würden Sie den deutschen Händlern geben, um sich gegen die chinesische Konkurrenz zu behaupten?

Deutsche Händler sollten ihre eigenen Stärken herausstellen und sich kontinuierlich weiterentwickeln. Sie müssen ihre Markenidentität stärken, auf Nachhaltigkeit setzen und innovative Wege finden, um ihre Kund*innen zu begeistern. Es ist wichtig, Vertrauen zu gewinnen und zu halten, indem man qualitativ hochwertige Produkte und ein hervorragendes Kundenerlebnis bietet. Offene Augen und Ohren für neue Trends und Technologien sind ebenfalls unerlässlich, um im Wettbewerb bestehen zu können. Darüber hinaus sollten sie sich auf die Förderung eines starken Markenbewusstseins konzentrieren.

Lokale Platzhirsche wie Zalando und About You haben bereits erste Konzepte vorgelegt, um gegen die Konkurrenz aus Fernost bestehen zu können. Können Sie uns diese genauer beschreiben?

Zalando setzt weiterhin stark auf Markenpartnerschaften und bietet Logistikdienstleistungen an, um sich als Marktplatz und Serviceanbieter zu positionieren. About You diversifiziert sein Geschäftsmodell durch die Entwicklung von Eigenmarken. Beide Unternehmen versuchen, sich über Qualität und Service zu differenzieren, anstatt nur über den Preis zu konkurrieren. About You plant außerdem, Artikel direkt ab Fabrik zu liefern, um günstigere Preise zu bieten, was dem Unternehmen helfen könnte, verschiedene Kundensegmente anzusprechen. About You hat auch eine Tochtergesellschaft namens Scayle, die ihre E-Commerce-Plattform als Softwarelösung an andere Unternehmen verkauft. Dadurch können sie zusätzliche Einnahmequellen unabhängig vom eigentlichen Einzelhandelsgeschäft erschließen und sich als Technologieanbieter etablieren.

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Der Hauptsitz der E-Commerce-Plattform Alibaba in Zhejiang, China.

Glauben Sie, dass About You mit dieser Strategie erfolgreich gegen die Billiganbieter aus Fernost sein könnte?

Ich glaube nicht, dass man den Preiswettbewerb wirklich gewinnen kann. Es ist jedoch wichtig, auch preisgünstige Einstiegsartikel anzubieten, um verschiedene Kundensegmente anzusprechen und Kund*innen im eigenen Ökosystem zu halten. Entscheidend ist, dass die lokalen Händler weiterhin auf Qualität setzen und ihre Marken stärken, um das Vertrauen der Kund*innen zu bewahren. Eine schnelle Reaktion auf Trends und die Fähigkeit, Kollektionen innerhalb kurzer Zeit anzupassen, könnten ebenfalls einen Wettbewerbsvorteil bieten.

E-Commerce-Riese Amazon hat angekündigt, einen eigenen Billigshop in den USA zu starten. Wie könnte dies den Wettbewerb mit den chinesischen Anbietern beeinflussen?

Der Einstieg von Amazon in das Billigsegment wird den Wettbewerb sicherlich verschärfen. Der US-Konzern hat den Vorteil, dass er bereits über eine etablierte Logistik und Infrastruktur verfügt. Dies könnte es ihm ermöglichen, im Preiswettbewerb mit den chinesischen Anbietern zu bestehen und gleichzeitig ein höheres Maß an Produktsicherheit und Kundenservice zu bieten. Langfristig könnte Amazon durch diesen Schritt seine Marktführerschaft weiter ausbauen und neue Kundensegmente erschließen.

Beim Thema Nachhaltigkeit sind diese Entwicklungen kritisch zu betrachten, da viele Ressourcen genutzt werden, um günstige Produkte zu verkaufen. Wie können Unternehmen hierzulande Nachhaltigkeit erreichen, wenn sie mit der Flut an günstigen Produkten aus China konkurrieren müssen?

Nachhaltigkeit sollte als Differenzierungsmerkmal genutzt werden. Unternehmen können mit hoher Produktqualität, Langlebigkeit und einer besseren Kuratierung des Angebots punkten. Es ist wichtig, Nachhaltigkeit positiv zu kommunizieren und zu zeigen, dass qualitativ hochwertige Produkte auch nachhaltiger sind, da sie länger halten und seltener ersetzt werden müssen. Programme zur Kundenloyalität und transparente Lieferketten sind ebenfalls wichtig, um das Vertrauen der Kund*innen zu gewinnen und zu halten. Durch die Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards und die klare Kommunikation dieser Bemühungen können sich Unternehmen von der Konkurrenz abheben.

Die beschlossene Green Claims Direktive soll dafür sorgen, dass Behauptungen wie „nachhaltig“ oder „klimaneutral“ belegbar sein müssen. Könnte das dazu führen, dass Unternehmen und Händler auf das Differenzierungsmerkmal „nachhaltig“ künftig verzichten?

Es besteht das Risiko, dass kleinere Unternehmen aufgrund der Anforderungen Schwierigkeiten haben könnten, diese Nachweise zu erbringen. Andererseits schafft die Richtlinie ein faires Wettbewerbsumfeld, indem sie sicherstellt, dass nur diejenigen Unternehmen, die wirklich nachhaltige Praktiken anwenden, dies auch in ihrer Kommunikation behaupten dürfen. Langfristig könnte dies dazu führen, dass Unternehmen verstärkt in nachhaltige Praktiken investieren, was wiederum einen insgesamt höheren Standard in der Branche vorantreibt. Nachhaltigkeit sollte nicht nur als Compliance-Thema betrachtet werden, sondern als strategischer Vorteil, der das Vertrauen und die Loyalität der Kund*innen stärkt.

Wahrscheinlich soll der TikTok-Shop bald in Deutschland verfügbar sein. Welche Rolle könnte diese Plattform für deutsche Händler in diesem Wettbewerbsumfeld spielen?

Der TikTok-Shop bietet eine große Chance für deutsche Händler, direkt mit den Endkund*innen zu kommunizieren und an sie zu verkaufen. Es ist wichtig, diesen Kanal nicht zu ignorieren und sich schnell anzupassen. Authentische und schnelle Kommunikation sowie die Fähigkeit, Trends schnell aufzugreifen, sind entscheidend. TikTok ermöglicht es Marken, auf eine neue und innovative Weise präsent zu sein und eine jüngere Zielgruppe zu erreichen. Der direkte Kontakt zu den Kund*innen und die Möglichkeit, virale Trends zu nutzen, können einen großen Einfluss auf den Verkaufserfolg haben.

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.