Barrierefreies E-Commerce: Droht die zweite DSGVO?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verpflichtet Onlineshops, ab dem Jahr 2025 barrierefrei zu sein. Der E-Commerce-Sektor ist darauf nicht wirklich vorbereitet.
Der deutsche Onlinehandel hat nicht mehr viel Zeit, um seine Scheuklappen beim Thema digitale Barrierefreiheit abzulegen. (© Yaroslav Danylchenko, Stocksy)

Der 25. Mai 2018 war für viele Unternehmen mit großen Aufwänden verbunden. Mit diesem Tag trat die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Kraft. Die Regelungen waren lange angekündigt, und es war möglich, sich vorzubereiten – auch wenn es recht lange gedauert hat, bis die letzten juristischen Details definiert waren. Nur: Gehandelt wurde bei vielen Unternehmen erst, als es schon zu spät war.

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Am 28. Juni 2025 könnte sich diese Geschichte in einem anderen Bereich wiederholen: bei der digitalen Barrierefreiheit. Ab dann müssen Webseiten von Onlineshops barrierefrei angeboten werden. Das steht bereits seit Juni 2019 fest, als der European Accessibility Act in Kraft getreten ist. Im vergangenen Sommer wurde er mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in deutsches Recht übertragen. Ausgenommen sind hier lediglich Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten, weniger als zwei Millionen Euro Umsatz und sofern sie selbst keine Produkte in Umlauf bringen.

bevh unglücklich

Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (bevh) ist damit nicht wirklich glücklich: „Die Frage ist: Hätte es nicht andere Lösungen gegeben, um Barrierefreiheit zu erreichen? Das hätten beispielsweise technische Schnittstellen sein können. Aber unser Vorschlag dazu wurde im Gesetzgebungsprozess nicht weiter gehört“, erklärt die Rechtsanwältin des Verbands, Eva Behling. Ob und wie technische Schnittstellen tatsächlich für mehr Barrierefreiheit sorgen können, ist allerdings unklar.


Über barrierefreien stationären Einzelhandel schreibt Henning Eberhardt hier.


Nun aber ist das Gesetz da, und wieder macht es den Eindruck: Niemand ist so richtig darauf vorbereitet, viele haben das Gesetz nicht einmal auf dem Schirm. Welche Anforderungen genau zu erfüllen sind, steht noch nicht fest. Bis Sommer 2022 soll es laut Bundesfachstelle Barrierefreiheit eine Verordnung geben, die Details regelt. Noch ist für Shops genug Zeit zu handeln, um die Anforderungen bis 2025 zu erfüllen. „Viele Händler denken allerdings, dass sie das Thema noch nicht angehen müssen“, sagt Behling. Dabei besteht schon längst Handlungsbedarf.

Für die Studie wurden mehr als 550 Menschen (279 mit, 277 ohne Behinderungen) im Alter von 20 bis 49 Jahren befragt. (Quelle: Webaim.org)

Was bedeutet Barrierefreiheit für Webseiten?

Um zu verstehen, wie eine Webseite barrierefrei wird, hilft es zu wissen, was Barrierefreiheit im Digitalen bedeutet. Einfach gesagt: Ziel ist es, dass jede Person Digitalangebote wie Webseiten oder Apps uneingeschränkt nutzen kann. Dabei geht es auch um Menschen mit Behinderung. Doch Barrierefreiheit ist weiter gefasst: Egal ob ältere Menschen, kognitiv eingeschränkte oder langsame Personen, auch für sie stellt die Nutzung von Digitalangeboten mitunter eine Hürde dar. Menschen mit eingeschränkten Sprachkenntnissen können ebenso Probleme bei der Webseitennutzung haben.

Damit ist die Liste noch nicht zu Ende: Auch Menschen mit temporärer Einschränkung haben Bedarf an barrierefreien Digitalangeboten. Wer einen gebrochenen Arm hat, kann mitunter weder Maus noch Touchpad bedienen, ist aber eventuell in der Lage, wenige Tasten auf der Tastatur zu bedienen. Damit diese Person ein Angebot nutzen kann, ist es also nötig, dass eine Webseite nur mit der Tastatur zu bedienen ist. Und selbst hier ist die Grenze noch nicht erreicht: Genau genommen sind Menschen auch dann bei der Nutzung von Webseiten eingeschränkt, wenn sie zum Beispiel in der Bahn sitzen und keine Kopfhörer dabeihaben. Für sie braucht ein Video dann Untertitel.

Barrierefrei zu sein, heißt somit, die Zugänglichkeit des eigenen Angebots so zu erhöhen, dass annähernd alle Menschen in der Lage sind, es zu nutzen. Das können sogar Menschen mit geringen Bandbreiten und schlechtem Handyempfang sein. Im Zweifel ist jeder Mensch auf Barrierefreiheit angewiesen.

Welche Standards gelten?

Um den Bedürfnissen aller Menschen gerecht zu werden, genügt es nicht, Bilder mit Alternativtexten zur Beschreibung für Sehbehinderte zu versehen oder Untertitel bei Videos zur Verfügung zu stellen. Die Anforderungen sind diverser. Um zu verstehen, was nun konkret umzusetzen ist, hilft ein Blick auf die Standards: Basis für die Regeln der digitalen Barrierefreiheit sind die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), die vom World Wide Web Consortium (W3C) definiert werden. Dieser Regelrahmen ist die technische Grundlage für die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV), die festhält, welche Standards öffentliche Stellen in Deutschland erfüllen müssen. Einfach und sinnvoll wäre es, diese Standards nun schlicht von den öffentlichen Stellen auf die Shopbetreiber zu übertragen. Einfach zumindest für den Gesetzgeber.

Für Shopbetreiber wären die Standards hingegen eine hohe Hürde. Sie beinhalten insgesamt 78 Erfolgskriterien der Barrierefreiheit, von denen wohl 50 verpflichtend zu erfüllen wären. Das bedeutet aber auch: Irgendwann könnte womöglich noch eine Steigerung der Barrierefreiheit nötig werden, zumal die Kriterien erweitert werden. Eine neue Version der WCAG ist bereits in Arbeit, wird aber wohl frühestens 2023 fertiggestellt. „Wir wären schon froh, wenn das, was aktuell bereits in den gesetzlichen Bestimmungen steht, umgesetzt würde“, sagt daher Jana Mattert, Referentin für Barrierefreiheit beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Gleichzeitig wünscht sich der Verband eine Ausweitung der Vorgaben auf andere Bereiche, beispielsweise auf beruflich genutzte Produkte.

Was ist konkret zu tun?

Die Erfolgskriterien ordnen sich allesamt in vier übergeordnete Prinzipien ein: Webseiten müssen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein. Robust heißt in dem Fall, dass Inhalte von einer großen Auswahl an Nutzenden verwendet werden können, möglichst unabhängig davon, mit welchem Gerät, Browser oder welcher Assistenztechnologie sie darauf zugreifen.

Beim Blick auf die einzelnen Kriterien wird es recht kleinteilig. Das fängt schon bei Alternativtexten an: Nicht nur Bilder brauchen alternative Textinhalte, sondern alle Elemente, die Inhalt darstellen, aber kein Text sind. So muss für Buttons beispielsweise hinterlegt werden, welche Aktion folgt, wenn sie angesteuert werden. Alle Inhalte müssen so ausgezeichnet sein, dass sie auch für Menschen mit Einschränkungen nutzbar sind. So ist für fast jedes Element zu definieren, was es eigentlich tut. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Überschriften-Hierarchien semantisch logisch aufgebaut sind. Für eine Seite gibt es also nur eine zentrale Überschrift H1, auf diese darf nie direkt eine H3 folgen, es muss immer eine H2 dazwischenliegen. Außerdem müssen gleichrangige Überschriften auch gleichrangig ausgezeichnet werden. Dazu beinhalten die Kriterien auch die vollständige Bedienbarkeit einer Seite mit der Tastatur oder die Auszeichnung von fremdsprachigen Wörtern.

Anders als oft angenommen muss Barrierefreiheit kein Hemmschuh sein. Eine barrierefreie Seite kann alle Funktionalitäten anbieten. Sie kann dabei auch gut aussehen, auch wenn im Design stärker berücksichtigt werden muss, wie kontrastreich Farben eingesetzt werden. All diese Aspekte sind nur ein Teil dessen, was an Barrierefreiheitsanforderungen zu erfüllen ist. Am erfolgreichsten erreicht man eine gute Umsetzung mit der Beteiligung Betroffener: „Menschen mit Behinderung am Schluss, wenn schon alles fertig ist, ehrenamtlich einzubeziehen und einen User-Test zu machen, das ist zu wenig. Die Erfahrung zeigt, dass digitale Barrierefreiheit gut umsetzbar ist, wenn man sie von Anfang an mitdenkt“, erklärt Jana Mattert vom DBSV.

Während die Anforderungen an Onlineshops im Detail unklar sind, steht eines fest: Die Umsetzung ist nicht trivial. Seiten sind nicht zufällig barrierefrei. Es kostet Zeit und Geld, Barrierefreiheit zu erreichen.

Der aktuelle Zustand: weit weg von barrierefrei

Insofern ist es kaum überraschend, dass viele Angebote aktuell nicht barrierefrei sind: Das Baymard Institute, das sich mit Forschung zu User Experience auseinandersetzt, hat im vergangenen Jahr die Webseiten von 33 großen E-Commerce-Anbietern untersucht. Nur zwei der Seiten erfüllten die Standards der Barrierefreiheit voll – die von H&M sowie vom Sportshop REI. Nicht vollständig barrierefrei sind Ikea, Apple, Asos, Zalando oder Amazon. 12 der 33 untersuchten Unternehmen erfüllen sogar keinen der vier getesteten Bereiche. Wenn aber selbst internationale Big Player, die große Budgets in die Webentwicklung stecken, die Kriterien nicht vollständig erfüllen, sollte klar sein: Für kleinere Shops wird es schwer, die Standards zu erreichen.

„Wir rechnen pro Shop je nach Größe und Aufwand mit Kosten zwischen 100.000 und einer Million Euro“, erklärt Eva Behling vom E-Commerce-Verband. Das könnte für kleine Anbieter mitunter existenzbedrohend sein. Dennoch ist Behling davon überzeugt, dass das Ziel Barrierefreiheit grundsätzlich richtig ist: „Gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass alle Menschen die Produkte nutzen können.“

Mitdenken sollten Onlineshops Aspekte der Barrierefreiheit also jetzt schon. Vor allem, wenn ohnehin größere Umbauarbeiten oder ein Relaunch anstehen. Konsequent von Beginn an mitgedacht, ist die Barrierefreiheit deutlich einfacher umzusetzen. Und sie ist kein rein juristischer Zweck. Sie hilft, Zielgruppen einzubeziehen, die ein Produkt vorher nicht voll nutzen konnten. Auch im Google PageRank werden Aspekte der Barrierefreiheit berücksichtigt und zahlen auch auf Suchmaschinenoptimierung ein. Ein Grund mehr, schon jetzt mit Barrierefreiheit anzufangen. Dann droht auch nicht das böse Erwachen im Sommer 2025.

Dieser Artikel erschien zuerst in der März-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.