„Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis, aber von nichts den Wert“, schreibt der irische Schriftsteller Oscar Wilde in seinem Buch „Das Bildnis des Dorian Gray“ im Jahr 1891. Mehr als 100 Jahre später klingt sein Zynismus fast schon euphemistisch: Heute, könnte man entgegnen, kennt nicht mal mehr jemand den Preis.
Beispielsweise im Supermarkt. Man stelle sich vor, man streune zwischen den Regalen umher, auf der Suche nach Inspiration für den abendlichen Einkauf. Während die Produkte still stehen, bewegen sich die Zahlen auf den Preisschildern wie Symbole an einem einarmigen Banditen. Erst als man innehält, vielleicht am Kühlregal, halten auch die Zahlen an: Der Vanillejoghurt kostet heute 69 Cent – zumindest für mich. Für die alte Dame, die kurz darauf am Regal steht, sind es nur 59 Cent. Der Grund: Sie ist um einiges preisbewusster als ich, ihre Zahlungsbereitschaft niedriger. Der Supermarkt weiß das, er kennt die Dame und ihr Einkaufsverhalten genau. Damit die Dame überhaupt zugreift, hat er den Preis herabgesetzt.
Zugegeben, die Situation ist fiktiv. Und doch spiegelt sie wider, was Unternehmen und Verbraucherschützer in naher Zukunft als Wirklichkeit begreifen – und fürchten: Warenpreise, die sich in Echtzeit ihren Kunden und den Marktbedingungen anpassen.
Dynamic Pricing: „Schlachtfeld um die Privatsphäre“
Die Idee dahinter ist nicht neu: Preise werden schon immer von einer Vielzahl externer Faktoren beeinflusst, insbesondere von Angebot und Nachfrage. Daraus entstehen beispielsweise Sommerschlussverkäufe oder schwankende Tankstellenpreise. Durch die Zunahme von Wettbewerbern im Internet aber steigt der Druck auf den Handel: Mithilfe von Smartphones, mobilem Internet und Apps können Kunden Angebote in Echtzeit miteinander vergleichen. Online wie offline müssen Händler ihre Konkurrenten daher im Blick behalten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das führt zu immer härteren Preisschlachten, der Handel kannibalisiert sich selbst.
Ein Paradigmenwechsel hat daher Einzug gehalten, von der wettbewerbs-
orientierten hin zur kundenorientierten Preisbildung. Nicht mehr der niedrigste Preis soll die Konkurrenz überlisten, sondern der beste Preis für den jeweiligen Kunden. Das passende Zauberwort lautet „Dynamic Pricing“ – dynamisches Preismanagement. Unternehmen bedienen sich hierfür aus Datenmassen über Kunden, Wettbewerber und externe Marktbedingungen wie Tageszeit oder Wetter. Algorithmen setzen diese Informationen zuein-
ander in Beziehung und errechnen daraus optimale Preise für ein Produkt zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort.
Der Unterschied von Dynamic Pricing zu klassischem Preismanagement liegt in den verwendeten Daten. Händler können immer mehr Faktoren in immer komplexere Zusammenhänge stellen. Dank technologischer Möglichkeiten funktioniert das auch immer schneller. E-Commerce-Händler können ihre Wettbewerber mittlerweile in Echtzeit monitoren und das Einkaufsverhalten der Konsumenten voraussagen.
Doch was den Handel stärkt, schwächt den Verbraucher zunehmend. Der amerikanische Computerexperte Dan Kaminsky prophezeite schon 2009, dass der personalisierte Preis das „Schlachtfeld um die Privatsphäre“ werde. In seiner Horrorvision fließen auch persönliche Informationen aus sozialen Netzwerken in die Berechnungen mit ein: Wenn eine Hochzeit in der Familie anstehe, könnten die Flug-
tickets für Familienmitglieder um ein Vielfaches teurer werden – aufgrund der „unflexiblen Nachfrage“, schreibt der „Tagesspiegel“.
Die Macht, die Konsumenten durch Online-Vergleichsmöglichkeiten gewonnen haben, kehrt sich dadurch in eine Ohnmacht um. Verbraucherschützer warnen vor der Entwicklung hin zum „gläsernen Kunden“, vor Diskriminierung und Datenmissbrauch. Experten sagen, die wachsende Intransparenz erziehe Konsumenten zu Misstrauen und schade am Ende dem Handel selbst. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen: Wenn der Preis austauschbar wird, welchen Wert hat ein Produkt, eine Marke dann überhaupt noch?