Das Haus der Kommunikation in Berlin hat eine lange Geschichte: Früher war es die Frauenklinik der berühmten Charité. In der dritten Etage, dort wo heute ein kleines Café zu finden ist, kam in der Vergangenheit der Nachwuchs zur Welt. Noch lange bevor es als Geburtshaus genutzt wurde, hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts rund um das Gebäude ein Hotspot der Kommunikation gebildet. Nun, im 21. Jahrhundert, mausert sich das Viertel erneut zur kommunikativen Hochburg. Direkt gegenüber ziehen bald Google und YouTube ein, erzählt Benedikt Göttert, Geschäftsführer der Medienagentur Serviceplan Berlin. Im 3. Stock der ehemaligen Frauenklinik werden längst keine Babys mehr geboren, mittlerweile haben dort innovative Ideen ihren Ursprung.
Um diese zu fördern, stehen zwei Kaffeemaschinen im hinteren Teil des Raumes. „Es sollen Menschen miteinander sprechen, die sonst im Büroalltag nicht zusammen kommen“, erklärt Göttert, Hausherr und Chef von 150 Mitarbeitern. Und, um im Storytelling von Serviceplan zu bleiben, genau an jenen Kaffeeautomaten haben sich Psychologen und Medienplaner getroffen – im metaphorischen Sinn versteht sich. Sie kamen ins Gespräch, diskutierten über die Herausforderungen einer Kampagnenplanung und stimmten darin überein, dass das auf soziodemografischen Merkmalen aufbauende Verfahren weder effizient noch zielführend ist. Es musste sich was ändern.
Für die Erklärung hat Göttert seinen Partner Wolfgang Bscheid aus München eingeladen. Er ist Geschäftsführer der Agentur mediascale, die zu Serviceplan gehört, und hat für den neuen Mini Countryman im Frühjahr 2017 eine Kampagne mit Hilfe von psychografischem Targeting konzipiert. Eine Premiere für den deutschen Markt. Das, was Bscheid versucht hat, gleicht einem Paradigmenwechsel für eine gesamte Branche. Während jahrzehntelang Kampagnen entworfen wurden, bei der Agenturen soziodemografische Daten und gesellschaftliche Milieus als Unterscheidungsfaktoren herangezogen haben, soll der neue Ansatz mögliche Käufer anhand seiner Bedürfnisse und Wünsche abbilden. Welche Interessen haben sie? Wie ist ihre Persönlichkeit gestrickt? Und aus welchen Gründen könnten sie ein bestimmtes Produkt überhaupt kaufen? „Die Herausforderung ist, den Menschen und sein Verhalten zu verstehen“, sagt Bescheid.
Den werbetreibenden Kunden geht es in diesem Prozess vorrangig um Effizienz: Mit weniger Budget sollen noch mehr Menschen erreicht werden, die dann im besten Fall das Produkt erwerben. „Das Problem ist nur“, betont Bscheid, „90 Prozent aller Konsumenten geben an, dass sie Werbung ignorieren.“ Für den Münchener und seine Kollegen von mediascale kristallisierte sich schnell heraus, dass es nur über Relevanz gehen kann. Allerdings fehlte die Strategie, um jene Bedeutsamkeit beim Nutzer zu erreichen.
Verquickung von Theorie und Praxis
Zurück an der Kaffeemaschine erzählten die Werbeleute bei einem etwas verzagten Plausch von ihren Problemen und den gestiegenen Anforderungen seitens der Auftraggeber. Die Psychologen hörten genau zu und erzählten, dass es da ein sehr etabliertes, rund 15 Jahre altes Modell aus der Forschung gebe, die sogenannte Psychographie. Kein Neuling, weder für die Wissenschaft noch für die Praxis, und ihre Wirkung ist bereits in vielen Studien belegt. In den USA wird das Verfahren seit längerer Zeit in Unternehmen beim Recruiting und der Teamentwicklung eingesetzt. Die Medienplaner merkten auf. Vielleicht könnte dieses Verfahren eine effizientere Ansprache ermöglichen.
Die Idee ist schnell erklärt: Menschen lassen sich durch grundlegende Motivationen und Werte unterschiedlichen Persönlichkeitstypologien zuordnen. „Anhand der Profile lassen sich zielgerichtete Kampagnen gestalten, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Einkommen“, erklärt Bscheid. Die Grundlage für das psychografische Targeting sind Daten – je mehr, desto besser. Die besitzt eine Medienagentur natürlich zuhauf, unter anderem durch die digitalen Spuren, die Nutzer tagtäglich hinterlassen. Unter der Leitung von Professor Joost van Treeck, Wirtschaftspsychologe am Kommunikationsinstitut der privaten Hochschule Fresenius, wurde zusätzlich eine Umfrage mit 40.000 Teilnehmern durchgeführt, die aufschlussreiche Daten zur Bildung der Persönlichkeiten lieferte. Die datenbasierte Kommunikation wird effizienter, so der Ansatz, weil gleichartige Gruppen individuell angesprochen werden.
„Für die Kampagne haben wir dann eine 3 mal 3 Matrix entworfen“, sagt Bscheid. „Also erhielten wir neun Persönlichkeitsprofile.“ Mit zunehmender Erfahrung soll das Modell schon bald kontinuierlich erweitert werden. Für den Mini Countryman ergaben sich aus mehreren Analysen drei Schwerpunktprofile, die Svenja, Olaf und Bernd/Inge getauft wurden. Alle drei haben verschiedene Charaktere und mussten deshalb für die Kampagne eigens angesprochen werden. Olaf zum Beispiel ist etwas egozentrischer als Svenja und erlebt gerne Abenteuer. Auf dem Werbeplakat sieht der Betrachter einen Mann alleine vor einer traumhaften Landschaft stehen, daneben sein Mini. Svenja ist dagegen viel lieber mit Freunden unterwegs, sozusagen der soziale Typ. In der Werbung wird sie daher mit Freunden gezeigt, die das Auto für gemeinsame Ausflüge nutzen. Bernd und Inge sind Familienmenschen: Sie benötigen ein Auto, um ihre Kinder zum Sport zu bringen oder am Wochenende kleinere Trips an die See zu unternehmen.
„Das Modell hat den großen Vorteil, dass alle Beteiligten in der Kampagnenplanung von den gleichen Personen ausgehen und so ein gemeinsames Bild im Kopf haben“, sagt Bscheid. Das sei früher bei der soziodemografischen Konzeption, betont er, eben nicht der Fall gewesen. Jeder hatte seine eigene Vorstellung von der Zielgruppe.
Der Algorithmus, mein neuer Kollege
Die konsequente Verquickung von Wissenschaft und Praxis dürfte neben den genannten Vorteilen auch eine existenzielle Dimension haben. Denn wie fast alle Branchen ist auch die Werbekommunikation von der Digitalisierung betroffen. Große Firmen wie SAP oder Adobe versprechen ihren Kunden eine Automatisierung des Marketings. Ein Algorithmus braucht nur genügend Daten potenzieller Kunden und erstellt dann auf dieser Grundlage eine Kampagne. Schnell und günstig ist die Devise.
Dazu passt, dass Procter & Gamble verkündet hat, im ersten Halbjahr von 2017 rund 100 Millionen Euro aus dem Budget der Online-Werbung gestrichen zu haben. Gegenüber dem Wall Street Journal sagte Konzern-Finanzchef Jon Moeller, dass die Einsparungen keine negativen Folgen für die Geschäftsentwicklung hatten. Das beweise die Wirkungslosigkeit des digitalen Marketings, so Moeller. Der Mutterkonzern von Marken wie Gillette und Pampers investiert jährlich rund sieben Milliarden Dollar in Anzeigen und Spots. Einige Kritiker bemängeln zudem, dass zuletzt die Werbewirkung nicht im gleichen Maße angestiegen ist wie die Kosten. Algorithmen mit ihren automatisierten Prozessen scheinen daher für werbetreibende Unternehmen immer attraktiver.
Der Algorithmus, mein neuer Kollege. Darauf müssten sich Beschäftigte in der Werbebranche mehr und mehr einstellen, so Bscheid. Nur ersetzen soll er den Mensch bitte nicht. Damit dies nicht passiert, sind Werbeagenturen gezwungen, neue Wege zu gehen – günstig, zielführend und relevant. Er sei kein Gegner von moderner Technik, im Gegenteil. Bscheid glaubt aber, dass „wirklich kreative Produkte durch menschliche Kommunikation“ entstünden.
Die Kampagne von mediascale sei jedenfalls, laut eigenen Angaben, ziemlich erfolgreich gelaufen. Es habe sich gezeigt, dass das psychografische Targeting die Kunden erfolgreicher angesprochen hat. Ein Indikator dafür ist die Klickrate. „Sie zeigt die Attraktivität der Kampagne in der Zielgruppe, sozusagen als Antwort auf die Frage: Gefällt mir dieses Motiv?“, erklärt der Chef von mediascale. Außerdem habe die gesamte Werbung im Online-Bereich weniger gekostet als das alte Verfahren.
„Für 2018 erstellen wir nun eine Kampagne für die ING-DiBa, die ebenfalls psychografisches Targeting nutzt. Eine weitere Herausforderung steht zudem mit der Einführung des Mini-Autos in Osteuropa an.“ Da müssten neue Persönlichkeitstypologien generiert werden, die kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede adäquat berücksichtigen. Wie das funktionieren könnte, wird dann vermutlich beim nächsten Treffen an der Kaffeemaschine besprochen.