Wer in Israel – einem Land, das mit vielen Spaltungen zu kämpfen hat – erfahren möchte, dass jeder Mensch dazu gehört, muss ein Einrichtungshaus besuchen. Im Jahr 2019 präsentierte Ikea Israel eine Reihe von Produkten, die Möbel und Gebrauchsgegenstände für Menschen mit Behinderungen leichter zugänglich machen. So wie einen Griff, der es ermöglicht, eine Schublade zu öffnen, ohne die Finger benutzen zu müssen oder die klare Markierung der Grenzen des Fachs für sehbehinderte Menschen. Das Projekt „ThisAbles“ ging dabei nicht nur auf besondere Bedürfnisse von beeinträchtigten Menschen ein, es setzte bei der Entwicklung der Produkte auch auf die Betroffenen selbst sowie auf zwei israelische NGOs.
Das Projekt selbst, aber auch der dazugehörige Case-Film der Kreativagentur McCann Tel Aviv, wurden international gefeiert, die Macher*innen gewannen mehrere renommierte Preise und erhielten große Aufmerksamkeit. Hier zeigt sich die Stärke von Inclusive Marketing. Damit sind Marketingstrategien gemeint, die darauf abzielen, eine breite und vielfältige Zielgruppe anzusprechen. Unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem Alter, ihrer sexuellen Orientierung oder ihren Fähigkeiten, sollen alle Menschen in der Werbung repräsentiert werden. So sollen Vorurteile abgebaut und ein inklusives Miteinander gefördert werden. Das Problem: Manche gesellschaftlichen Segmente spielen in der Werbung kaum eine Rolle.
Inklusion im Marketing: „Nur ein kleiner Teil ist sichtbar“
So werden Menschen mit Behinderung immer noch nicht adäquat in der Werbung abgebildet, obwohl laut Angaben der WHO 15 Prozent der gesamten Weltbevölkerung eine Behinderung haben. Trotz der unzähligen Werbeanzeigen, die jährlich veröffentlicht werden, fühlen sich viele Menschen davon nicht angesprochen. Scheuen sich Marken davor, behinderte Menschen in ihrer Werbung zu zeigen?
Immer wieder konzipieren und veröffentlichen Marken Werbekampagnen, die mit unseren normativen Vorstellungen der Gesellschaft brechen: Nachdem im Jahr 2020 ein britischer Windelhersteller seine Produkte auch mit zwei Babys mit Down-Syndrom beworben hatte, kommentierte der deutsche Allgemeine Behindertenverband: „Das wurde auch Zeit.“ Allerdings stellte er auch fest: „Menschen mit Behinderung sind in der Werbung noch immer unterrepräsentiert.“
Michael Stuber kennt das Problem. Seit den frühen 2000er Jahren forscht er als einer der Ersten zu Diversität in der Werbung und berät Unternehmen hinsichtlich ihrer Marketingstrategien und -umsetzung. „Unsere Analysen zeigen für Menschen mit Behinderung in der Fernseh- und Printwerbung eine starke Diskrepanz zwischen Marktanteil und Sichtbarkeit – ähnlich wie für andere Diversity-Gruppen.“
Werber sind sich ihrer Verantwortung nicht bewusst
Immer mehr Menschen erwarten von Marken, dass sie sich für gesellschaftliche Belange, Vielfalt und Initiativen zur sozialen Verantwortung von Unternehmen einsetzen. Laut der jährlich erscheinenden Vermarkter-Studie von Nielsen kauften 2022 mehr als die Hälfte der US-Konsument*innen bei Marken ein, die ihnen wichtige Anliegen unterstützten. Ebenso erwarteten mehr als 36 Prozent, dass die Marken soziale Anliegen befördern. Kein Wunder, dass immer mehr Vermarkter bemüht sind, Vielfalt in ihre Marketingstrategien zu integrieren. Doch Menschen mit Behinderungen scheinen davon weitestgehend ausgenommen.
Zwar habe sich in den letzten Jahren „einiges getan“, wie Stuber sagt, „doch in der Werbung ist man gegenüber anderen Medien wie Spielfilmen und Serien weiterhin übervorsichtig.“ Das fiele ihm vor allem in Fachgesprächen mit Verbandsmitgliedern und Vereinigungen wie dem ADC auf. “Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig sich die Werbeindustrie als Schrittmacher sieht.”
Ein Problem sieht der Berater darin, dass man bei der Sichtbarmachung von Behinderungen leicht in Klischees abdrifte. “Hier muss man unterscheiden zwischen Themen, die man annäherungsweise sichtbar machen kann wie Gender, Herkunft und Alter. Hingegen ist das bei LGBTQ-Personen oder Menschen mit nicht-normativen Körperlichkeiten oder mentalen Konstitutionen schwieriger“, so Stuber.
Ein anderes Problem: Vielen Marketingverantwortlichen fehlten schlichtweg Informationen wie Produktaffinität und Kaufverhalten von bestimmten gesellschaftlichen Segmenten wie der von behinderten Menschen, BiPoC sowie LGBTQI+-Personen. “Ein Grund, weshalb sich Marketer dagegen entscheiden, diese in ihre Strategien einzubauen“, sagt Stuber.
Marken müssen Werte vertreten
Interessanter für den Fachmann ist jedoch ein anderer Grund: der persönliche Bias. „Der Großteil der Marketer hat in unserer Studie angegeben, dass ihre Kernzielgruppen keine ausgeprägte Vielfalt vertragen.” Eine Projektion, wie der Experte findet. „Damals wie heute kenne ich keine Daten, dass der Gesamtmarkt Anti-Gay oder Blond-Only ist. Entsprechendes sehen wir auch für Menschen mit Behinderung.“
Trotz der Schwierigkeiten kommt Inclusive Marketing eine immer wichtigere Rolle zu. Das lässt sich auch am Verhalten von den Großkonzernen ablesen. So veröffentlichte Tech-Gigant Google im Jahr 2022 das Accessible Marketing Playbook, ein Leitfaden, der Unternehmen dabei helfen soll, barrierefreie und inklusive Marketingstrategien zu entwickeln. So soll sichergestellt werden, dass alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Zugang zu den Produkten und Dienstleistungen eines Unternehmens haben können. Eine suboptimale Lösung, wie Stuber findet.
„Checklisten funktionieren nicht. Und wir sind auch nicht im Sandkasten, um Dinge auszuprobieren”, sagt er. Es gebe genug belastbare Informationen, um für eine Marke die jeweils passende Diversity-Strategie zu finden. “Warum man mit starren To-Do-Listen hantieren sollte, verstehe ich nicht. Es zeigt allerdings, dass das Thema Inklusion nicht ernst genommen wird.“
Ein weiteres Problem sieht Stuber darin, dass viele Marken glaubten, mehr Vielfalt führe zu mehr Einbeziehung. Das sei aber kein Selbstläufer. “Damit eine Marke eine einbeziehende Wirkung erzielen kann, muss sie auch ihre Werte entsprechend weiterentwickeln. Vielfalt und Einbeziehung lassen sich auf unterschiedliche Weise anpacken“, so der Berater. Wenn sich eine Marke in Richtung Diversity entwickeln wolle, müsse sie verstehen, wo sie herkommt und wohin sie sich “gesund entwickeln” wolle. Stubers Fazit: „Diversity-Washing passiert jeden Tag, weil viele Firmen schön dastehen wollen, aber im Kern eine monokulturelle Schiene fahren. Das darf im Marketing nicht passieren.“