von Dr Hans-Georg Häusel
In einfachster Definition beschäftigt sich Neuromarketing damit, wie Kaufentscheidungen im menschlichen Gehirn entstehen, vor allem aber, wie man sie beeinflussen kann. Für die Beantwortung dieser Kernfragen des Marketing gibt es zwei unterschiedliche Forschungsstränge, die auch gleichzeitig für eine engere oder erweiterte Definition von Neuromarketing stehen (siehe Kasten).
Wenn man sich über die Chancen, die Grenzen und die Zukunft von Neuromarketing Gedanken macht, ist man deshalb gut beraten, beide Forschungsstränge getrennt zu betrachten.
Beginnen wir mit den Hirnscannern & Co. (FMRI, MEG, EEG). Ihre große Faszination in der Öffentlichkeit erklärt sich sowohl aus den eingesetzten High-Tech-Apparaten und der damit verbundenen Mystik, vor allem aber aus ihrem Output nämlich den geheimnisvollen, farbigen Hirnbildern. Diese Hirnbilder haben über die Publikumspresse mit Aussagen wie „Wo Sex im Gehirn sitzt“ längst Eingang ins öffentliche Bewusstsein gefunden.
Der Einzug der Hirnscanner ins Marketing erfolgte in den Jahren 2001/2002 mit der inzwischen berühmten Coca-Cola/Pepsi-Studie von McClure, Read, Tomlin, Cypert und Montague – wissenschaftlich veröffentlicht 2004. In der Untersuchung hatte das Forscherteam festgestellt, dass im Blindtest Coca-Cola und Pepsi die gleichen Hirnregionen aktivierten. Völlig andere Hirnbilder erhielt man, als die Marken aufgedeckt wurden. Coca-Cola aktivierte viele weitere Hirnregionen, während das Konsumenten-Hirn bei Pepsi stumm und still blieb.
Einige Monate später wurden auch in Deutschland die ersten Hirnscanner-Untersuchungen gemacht. Im Auftrag von Daimler-Chrysler untersuchten Manfred Spitzer, Henrik Walter und Susanne Erk von der Universität Ulm, welche Unterschiede es im Hirn bei der Darbietung von Limousinen, Vans, Sport- und Kleinwagen gibt. Auch hier ergaben sich jeweils andere Aktivierungsmuster: Sportwagen aktivierten besonders den „Lustkern“ im Gehirn, den Nucleus Accumbens.
Der österreichische Ladenbaukonzern Umdasch untersuchte mit dem Ludwig-Boltzman-Insitut mittels MEG die unterschiedliche emotionale Wirkung von Bildern im Gehirn bei der Ladengestaltung. Und an der Universität Münster zeigten Peter Kenning und Michael Deppe, dass starke Marken zu anderen Erregungsmustern als schwache Marken führen. Insbesondere diese Untersuchung sorgte auch in der Publikumspresse für starke Resonanz.
Sie verstärkte zudem den beginnenden Neuromarketing-Hype, weil in den Presseberichten suggeriert wurde, dass jetzt das Zeitalter des gläsernen Konsumenten angebrochen wäre. Wie in Amerika wurde diese Nachricht nicht nur mit Begeisterung aufgenommen: Verbraucherschützer und Bürgerrechtler traten auf den Plan und schürten die Sorge vom willenlosen und gläsernen Konsumenten, der nun durch die Hirnscanner den bösen Machenschaften der Konzerne hilflos ausgeliefert sei.
Für Wissenschaftler wie Kenning und Deppe, die in Vorträgen und in ihren Schriften seriös die Chancen und Grenzen der Hirnscanner darstellen, war diese Erfahrung mit der Publikumspresse und den Reaktionen der Grund, den Begriff „Neuromarketing“ mit seinen Manipulationsassoziationen fortan zu vermeiden. Stattdessen nutzen sie den Begriff „Neuroökonomie“, weil dieser erstens unverfänglicher ist und zweitens nicht nur Kauf-, sondern auch wirtschaftliche Wahlentscheidungen insgesamt mit einbezieht.
Von den Presseberichten animiert und aktiviert haben inzwischen eine ganze Reihe weiterer, meist größerer Unternehmen erste Erfahrungen mit Hirnscannern zu Marktforschungszwecken gemacht. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden teilweise veröffentlicht; beispielsweise die Untersuchung des Bonner Brain & Life-Instituts und seines Leiters Christian Elger über die Wirkung von Rabatten im Gehirn. Auch die Burda-Verlagsgruppe und BBDO Consulting arbeiten mit dem Hirnforscher Ernst Pöppel zusammen, um Anzeigenrezeption und Markenwirkung mit Hilfe des Hirnscanners zu verstehen.
Wo stehen wir heute? Zunächst einmal kann man feststellen, dass der Hirnscanner-Hype etwas nachgelassen hat. Die Originalaussage des Marktforschungschefs eines der bekanntesten deutschen Marken-artikel-Unternehmen enthüllt, dass der Einsatz von Hirnscannern oft nicht nur auf fachliche Beweggründe zurückgeht: „Mein Vorstand hat mich gefragt, warum wir keine Hirnscanner einsetzen, schließlich seien wir doch in allen Marketing-Fragen besonders innovativ. Um Ruhe zu haben, haben wir dann halt mal so eine Untersuchung durchgeführt. Unser Vorstand kann diese Bilder jetzt stolz herumzeigen – für uns haben sie wenig Bedeutung.“
Das Beispiel zeigt: Die große Hoffnung und Erwartung der Praktiker in die Hirnbilder erfüllte und erfüllt sich oft nicht. Auch der Daimler-Chrysler-Konzern erhoffte sich, mittels Hirnscannern die Designakzeptanz von neuen Autos direkt zu messen, um so die klassischen Befragungen zu umgehen. Diese Hoffnung blieb ein Traum – die klassischen Befragungstechniken blieben, der Hirnscanner ging.
Zwar kann man heute mit dem Hirnscanner zeigen, ob ein Produkt oder eine Anzeige stärkere oder schwächere, positive oder negative Emotionen auslöst. Man kann auch sehen, ob unterschiedliche kognitive Strategien bei der Produkt- oder Werbewahrnehmung vom Gehirn eingesetzt werden. Welche Emotionen aber genau angesprochen werden und wie die kognitiven Strategien aussehen, kommt nur sehr grob oder überhaupt nicht ans Tageslicht. Ebenfalls bleibt im Dunkeln, wie die aktivierten Hirnbereiche zusammenwirken.
Prinzipiell lassen sich diese Fragen mit der heutigen Scanner-Erfahrung und den modernen Analyse- und Auswerte-Programmen zwar wesentlich besser beantworten als noch vor fünf oder zehn Jahren – trotzdem stößt man aber immer noch an methodische und vor allem finanzielle Grenzen. Denn um die komplexen Hirnvorgänge, die mit der Produkt- und Werbeverarbeitung verbunden sind, besser aufzudecken, muss man die im Marketing üblichen komplexen Fragestellungen in viele sehr sauber konzipierte und kontrollierte Detail- und Einzeluntersuchungen aufspalten.
Das Problem: Schon eine kleine Untersuchung mit sehr enger Fragestellung kostet auf Grund des technischen und personellen Aufwands viel Geld. Eine Hirnscanner-Stunde kostet zwischen 750 und 1 200 Euro. Da die Hirnscanner-Signale sehr schwach sind, braucht man meist 30 bis 40 Durchgänge (Dauer: rund eine Stunde) pro Versuchsperson, um zu statistisch verlässlichen Ergebnissen zu kommen.
Weil sich Menschen zudem individuell in ihren Hirnaktivitäten unterscheiden, sind in der Regel mindestens 20 Versuchspersonen pro Untersuchung erforderlich.
Summa summarum kosten aus diesem Grund schon ganz einfache Untersuchungen inklusive Vorbereitung und Auswertung 30 000 Euro und mehr. Betrachtet man Investition und Output, spricht das bei 95 Prozent aller heutigen Marketing- und Marktforschungsfragen gegen den Einsatz von Hirnscannern.
Vor sehr großen und kostenträchtigen Marketing-Entscheidungen, bei denen eine Risikominimierung um ein bis zwei Prozent durch bessere Erkenntnisse auf Grund der hohen Investitionssummen enorme finanzielle Konsequenzen nach sich zieht, kann aber eine Hirnscanner-Untersuchung doch zusätzliche wichtige Erkenntnisse beisteuern, die den klassischen Marktforschungsmethoden verschlossen bleiben.
Wohin werden sich Hirnscanner-Untersuchungen im Marketing in den nächsten Jahren entwickeln? Die Antwort findet, wer einen Blick in die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung wirft und sich ansieht, wie sich die Hirnscanner-Forschung in den vergangenen Jahren verändert hat. Gab es im Jahr 1995 etwa 1 000 Hirnscanner, ist die Zahl inzwischen weltweit auf 10 000 Stück angestiegen, und ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht in Sicht.
Verbunden mit dem Anstieg der Systeme und ihrer technischen Verbesserung, ist auch ein Anstieg der Erfahrung im Umgang mit diesen Systemen und bei der Auswertung der Daten. Daraus entstanden wiederum neue und wesentlich leistungsfähigere Auswertungs- und Analyseprogramme, die komplexere Untersuchungen und Fragestellungen ermöglichen.
Dieser Fortschritt wird in den nächsten Jahren in kleinen Schritten auch der Mar-keting-Praxis zugute kommen. Er wird allerdings nicht zu einer Revolution im Marketing führen, weil die Aussagekraft von Hirnscanner-Bildern eine Reihe weiterer Probleme mit sich bringt, die sich aus den Beschränkungen des Messverfahrens ergeben.
Wenn der Ausgabenanteil für Hirnscanner-Untersuchungen an den gesamten Marktforschungsausgaben heute sehr optimistisch geschätzt bei 0,001 Prozent liegt, wird er in zehn Jahren vielleicht bei 0,01 Prozent liegen. Prozentual ist das zwar eine Verzehnfachung, absolut gesehen dagegen immer noch ein verschwindend kleiner Anteil.
Von weit größerer Bedeutung für das Marketing ist dagegen die Nutzung der gesamten Erkenntnisse, die von der Hirnforschung in den vergangenen zehn Jahren erbracht wurden und die langsam in die Marketing-Forschung, Marke-ting-Ausbildung und in die Marketing-Praxis einfließen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden nachfolgend die wichtigsten „Honigtöpfe“ der Hirnforschung für das Marketing und für die Werbung skizziert und Hinweise auf die Relevanz gegeben. Alle diese Forschungsrichtungen und ihre Ergebnisse haben für das Marketing enorme Konsequenzen:
Neurowissenschaftliche Bewusstseinsforschung: Die Vormacht der unbewussten Entscheidungsprozesse
Während man lange Zeit auch im Marketing vom bewussten und vernünftig handelnden Konsumenten ausging, zeigt die aktuelle Hirnforschung, dass der unbewusste Anteil an einer Entscheidung um ein Vielfaches größer ist als der bewusste.
Dabei hängt es von der Bewusstseinsdefinition ab, ob man den unbewussten Anteil auf 95 oder 80 Prozent beziffert.
Tatsache ist, dass Entscheidungen überwiegend unbewusst getroffen werden. Die Kenntnis dieser unbewussten Entscheidungsprozesse und der zu Grunde liegenden neuronalen Mechanismen ist für das Marketing von großer Bedeutung.
Neurowissenschaftliche Emotionsforschung: Die Vormacht der Emotionen und die Struktur der Emotionssysteme
Eng verbunden mit dem Mythos des bewussten Konsumenten ist das Bild des rational handelnden Konsumenten.
Auch hier zwingt die aktuelle Hirnforschung zum Umdenken. Es gibt keine Entscheidungen, die nicht emotional sind. Und Emotion und Ratio sind nicht das Gegenteil. Gleichzeitig zeigt die Hirnforschung, welche Emotionssysteme im menschlichen Hirn vorhanden sind und wie sie im Detail wirken. Gerade diese Erkenntnisse können für Marketing- und Werbekonzepte kriegsentscheidend sein.
Multisensorische Verarbeitungsprozesse im Gehirn
Produkte wirken auf das Gehirn über verschiedenste Wahrnehmungskanäle und Signale (meist unbewusst) ein. Dabei sind „Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten“ nur ein Teil des Inputs, der im Gehirn verarbeitet wird. Inzwischen spielt die Multisensorik-Forschung eine wichtige Rolle in der Hirnforschung. Zunehmend wird nämlich deutlich, wie sich die verschiedenen Wahrnehmungskanäle gegenseitig beeinflussen, und besonders wichtig, dass Botschaften, die zeitgleich über verschiedene Wahrnehmungskanäle eingespielt werden, vom Gehirn um ein Mehrfaches verstärkt werden („Multisensory Enhancement“). Insbesondere für die Produkt- und Packungsgestaltung gibt diese Disziplin Hirnforschung wichtige Hilfestellungen.
Emotional-kognitive Verarbeitungsprozesse von Anzeigen und TV-Spots im Gehirn
Die Hirnforschung zeigt: Die klassische AIDA-Formel hat ausgedient, weil Aufmerksamkeits- und kognitive Verarbeitungsprozesse im Hirn anders ablaufen als bisher angenommen. Zudem verweist die Hirnforschung darauf, wie zeitliche Abläufe und Wahrnehmungsinhalte verarbeitet werden – wichtige Erkenntnisse für die Gestaltung von TV-Spots. Auch für das „Story-Telling“ und für das Script von guten Storys liefert die Hirnforschung wichtige Einblicke.
Neurolinguistik: Sprachverarbeitung im Gehirn
Auch wenn die Sprache für uns Menschen wichtig ist, sind entsprechende Verarbeitungszentren im Vergleich zur gesamten Entwicklungszeit des Gehirns erst vor einer Sekunde entstanden. Die Neurolinguistik und die neurowissenschaftliche Forschung über Sprachverarbeitung liefern viele wichtige Anregungen zur Optimierung von Text und Sprache im Marketing.
Neurowissenschaftliche Persönlichkeitsforschung
Dass sich Menschen und Konsumenten in ihrer Persönlichkeit und damit auch in ihren Produkt- und Markenpräferenzen unterscheiden, ist längst bekannt. Viel wichtiger ist aber die Frage, wie die Persönlichkeitsunterschiede aus Sicht der Hirnforschung aussehen und wie sich diese Unterschiede in emotional-kognitiven Kaufentscheidungen auswirken. Bei der Formulierung effektiver Zielgruppenstrategien lohnt deshalb ein Blick in die Hirnforschung.
Neurowissenschaftliche Geschlechtsforschung
Was man im Alltag schon immer wusste auf Grund von „Political Correctness“, aber über viele Jahre in Deutschland nicht offen aussprechen konnte: Frauen sind oft anders als Männer. Inzwischen wurden mehr als 200 Unterschiede im Gehirn und in der Neurochemie festgestellt – Unterschiede, die einen erheblichen Einfluss auf Denkstil, Emotionsstruktur und Verhalten haben. Wenn man bedenkt, dass 70 Prozent des freien Einkommens von Frauen entschieden werden, 80 Prozent der Marketing-Kampagnen dagegen von Männern, liefert die Hirnforschung viele Einblicke in das jeweils andere Geschlecht.
Neurowissenschaftliche Altersforschung
Insbesondere in Europa ist der alternde Konsument zu einer zentralen Herausforderung für das Marketing geworden. Das Gehirn inklusive Emotions- und Kognitionssysteme verändert sich aber erheblich im Laufe des Lebens. Inzwischen gibt es in der Hirnforschung viele wichtige Erkenntnisse über das alternde Gehirn – Erkenntnisse, deren Nutzung für das Alters-, aber auch das Jugend-Marketing von unschätzbarer Bedeutung ist.
Dieser kleine Überblick zeigt, welchen enormen Profit das Marketing schon heute aus der Hirnforschung ziehen kann, auch wenn wir vom gläsernen Konsumenten noch Lichtjahre entfernt sind. In allen diesen skizzierten Forschungsbereichen geht der Erkenntnisfortschritt in Siebenmeilenstiefeln weiter. Hirnscanner & Co. werden das Marketing in vielen Bereichen zum Umdenken zwingen und neue, spannende Chancen eröffnen. Die Zukunft gehört also dem Neuromarketing in seiner weiteren Definition.
Dr. Hans-Georg Häusel ist Dipl.-Psychologe und Vorstand der Gruppe Nymphenburg Consult in München. Bei der Übertragung der Erkenntnisse der Hirnforschung auf Fragen des Konsumverhaltens, Marketing und Marken-Managements zählt er zu den führenden Experten.
Kontakt: hg.haeusel@nymphenburg.de