Digitale Kampagnen: Auswege aus der Performance-Falle

Wer sich auf datengetriebene und automatisierte Prozesse verlässt, tappt bei der digitalen Kampagnensteuerung schnell in die Performance-Falle. Zwei Marketingexperten analysieren das Problem und zeigen Auswege.
Fehlsteuerungen bei Digitalkampagnen: TKP und CPCs reichen nicht aus. Selbst wenn man die Conversion Rate hinzunimmt, ist man noch nicht perfekt aufgestellt (© Unsplash/Carlos Muza)

Günstig, bequem und immer zielführend – das verbinden viele Marketer heute mit datengetriebener Werbung. Diese Vorstellung sei jedoch grundfalsch und könne zu gravierenden Fehlern führen, warnen Christian Bachem, Geschäftsführer der Beratungsfirma Markendienst, und Jan Schoenmakers, Geschäftsführer des Unternehmens Hase & Igel, das auf KI-gestützte Analyselösungen großer Datenmengen aus Markt und Unternehmen spezialisiert ist.

Die beiden Marketingexperten haben den Erfolg diverser Kampagnen analysiert und kommen zu dem Schluss: Im Data-driven Marketing kann ziemlich viel falsch laufen. Zwei Beispiele, die sinnbildlich dafür stehen.

Problemfall 1: vollautomatische Werbung im Google-Display-Netzwerk

Bachem und Schoenmakers berichten zum Beispiel von einem – auf die Branche bezogen – leicht verfremdeten, aber inhaltlich authentischen Fall: Um Agenturkosten zu sparen, kam in diesem Jahr eine Kette für Kfz-Reparaturen auf die Idee, ihre Werbung möglichst vollautomatisch im Google-Display-Netzwerk auszuspielen. Placements, Auswahl der Werbemittel und Gebote wurden komplett der künstlichen Intelligenz von Google überlassen. Die Kampagnen wurden auf möglichst geringe Mediakosten auf Cost-per-Click-Basis (CPC) optimiert.

Als relevantes Qualitätskriterium wurde auch die Klickrate hinterlegt. Die Kombination „günstige Klicks mit hoher Click-Through-Rate“ führte dazu, dass Google die Schaltung auf der Dating-App Tinder und auf Handy-Games intensivierte. Diese brachten hohe Klickraten zu sehr geringen CPCs, sodass dort zeitweise 80 Prozent des Budgets geschaltet wurden. Allerdings: Aus den Klicks entstanden keine Conversions. Warum? Weil Google vor allem bildschirmfüllende Banner platzierte, die besonders gut klickten. Das lag aber ausschließlich daran, dass Nutzer entnervt versuchten, das Banner wegzuklicken.

Problemfall 2: von den Performance-Zahlen getäuscht

Bachem und Schoenmakers nennen ein weiteres, auf die Branche bezogen verfremdetes, aber inhaltlich authentisches Beispiel für eine Performance-Falle: Ein Leasing-Anbieter wollte 2020 seine Budgeteffizienz erhöhen und konzentrierte seine Spendings auf Online-Werbung, nachdem er vorher auch Rundfunk, Out-of-Home und Print-Mailings eingesetzt hatte. Er schaltete programmatische Werbung im Real-Time-Bidding-Verfahren, ergänzt um Performance-Marketing und Social Media. Zur Erfolgskontrolle wurden der Tausend-Kontakt-Preis (TKP), der CPC und die Conversion Rate – also die gestellten Leasing-Anträge – betrachtet.

Das Konzept ging innerhalb von zwei Quartalen offenbar auf. Der TKP sank um 77 Prozent, der CPC um 18 Prozent. Die Conversion Rate gab zwar ebenfalls um 13 Prozent nach, aber da das Minus hier niedriger ausfiel als bei TKP und CPC, ging man davon aus, dass unterm Strich die Vertriebskosten pro erfolgreichem Leasing-Antrag fallen würden.

Das Gegenteil war der Fall: Es stellte sich heraus, dass ein sehr hoher Teil der Leasing-Anträge von den Bearbeitern sofort abgelehnt wurde, weil die Bonität der Interessenten gering war. Die Anträge, die bewilligt wurden, lagen im Volumen um 70 Prozent unter dem vorherigen Niveau. Der durch die Kampagne erzielte Umsatz (Return on Ad Spend) sank im Vergleich zum früheren Media-Mix um 89 Prozent.

Diese Fehlsteuerung wurde erst zwei Monate später bemerkt, da im Werbetracking-System, mit dem die programmatischen Kampagnen gesteuert und die Budgetallokation bewertet wurden, nur TKP, CPC und Conversion Rate betrachtet wurden. Die Kontrolle hörte also beim abgeschickten Leasing-Antragsformular auf. Annahmequoten und Werte zur Antragssumme wurden nur in CRM und Vertrieb sichtbar. Besonders fatal: Die Werte im Werbetracking-System sahen wie ein Erfolg aus. Also wurde immer mehr Kampagnenbudget dorthin umgeschichtet, wo möglichst viele Klicks mit solider Conversion Rate geholt wurden. Genau dort wurden aber viele Interessenten angesprochen, deren Kreditwürdigkeit gering war oder die für sehr geringe Beträge leasen wollten, sodass daraus auch bei Bewilligung keine profitablen Verträge wurden. Die vermeintlich günstig eingekaufte Medialeistung führte also zu herben Verlusten, die Kampagne spielte ihr Mediabudget nicht wieder ein.

TKP und CPCs reichen nicht aus

Derartige Fehlsteuerungen kommen zustande, weil nicht alle relevanten Kennzahlen in der Kampagnenplanung berücksichtigt werden. TKP und CPCs reichen eben nicht aus. Selbst wenn man die Conversion Rate hinzunimmt, ist man noch nicht perfekt aufgestellt: „Mit Conversion ist meist nur gemeint, dass eine Aktion stattgefunden hat – dass zum Beispiel eine Anfrage gesendet oder ‘kostenpflichtig bestellen‘ geklickt wurde“, sagt Schoenmakers.

„Annahme- und Stornoquoten sowie der Kundenwert werden kaum je einbezogen. Was am Ende der Customer Journey passiert, sieht häufig nur das Vertriebscontrolling.“ Und von dort flössen die Informationen nicht zurück in die Marketing-Organisation: „Kauf-, CRM- und Kundendaten gehen nicht selten ausschließlich an die Geschäftsführung“, sagt Schoenmakers.

Ganzheitlicher Blick auf den Funnel gefragt

Warum ist das so?

„Es gibt traditionelle Marketing-Organisationen, die keine Informationen über tatsächliche Käufe einfordern, sondern sich lieber um die Pflege der Marke und um ‘weiche Ziele‘ kümmern“, erläutert Bachem. „Häufig wehrt sich auch der Vertrieb dagegen, die Daten weiterzugeben. Notwendig ist aber ein ganzheitlicher Blick auf den gesamten Funnel.“

Das Problem an sich sei seit den 00er-Jahren bekannt, betont Schoenmakers: „Damals haben die Werbungtreibenden ihre Kampagnen aber noch regelmäßig selbst kontrolliert und justiert.“ Genau das finde heute in Zeiten des Programmatic Advertising oft nicht mehr statt. „Alles läuft über Autopilot, und viele verlieren aus den Augen, wo und wie die Werbung überhaupt ausgespielt wird“, sagt Schoenmakers und ergänzt: „Solange die Digital-Kennzahlen gut aussehen, fallen Fehlentwicklungen niemandem auf.“

Algorithmen verstärken Fehlsteuerung

Künstliche Intelligenz sorgt nicht dafür, dass diese Fehler vermieden werden: „Oft werden Fehlsteuerungen durch Algorithmen nicht nur verstetigt, sondern auch verstärkt“, sagt Schoenmakers. „Denn Automatisierung sorgt dafür, dass vermeintlich gut funktionierende Prozesse multipliziert werden. Wenn irgendetwas gute Klick- oder Conversion­Raten generiert, wird noch mehr Budget dorthin verlagert – auch wenn es Marke und Marge des Werbungtreibenden unterm Strich schadet.“

Wie kann man diese Fehler vermeiden und trotzdem programmatisch werben?

Auch mal den Autopiloten abschalten

Natürlich sollte man den Autopiloten ab und zu abschalten und kontrollieren, in welche Richtung eine Kampagne läuft. Die Experten empfehlen vor allem, bis zu den Kauf- und CRM-Daten alle relevanten Informationen im System zu berücksichtigen.

Darüber hinaus sollten KPIs einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden: „Nur selten existieren in Unternehmen gut durchdachte Kennzahlsysteme – vieles wirkt einfach gewürfelt“, sagt Bachem. Die hohe Schule sei es, die Wirkmechanismen und Interdependenzen der verschiedenen Kennzahlen zu bestimmen. Und: „Multivariate Statistik ist nicht so kompliziert, wie viele glauben.“

Der Artikel erschien zuerst in der November-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.