Über Jahrzehnte hinweg blieben in den Auseinandersetzungen mit der markenfeindlichen Umwelt die Schauplätze beruhigend stabil, waren die Fronten geklärt, und wiederholten sich die Argumente verlässlich. Die Gruppe derer, für die selbst die Daseinsberechtigung von Marken als nicht gesichert galt – die Forscher, Entwickler, Techniker, Finanzer oder Vertriebler in Unternehmen – durfte bedenkenlos als „hoffnungslos“ weitgehend ignoriert werden. Die kriegerische Energie wurde mit Vorliebe gegen jene aufgebracht, die das Wort
Marke im Munde führten, aber doch Anzeigen, Fernsehspots, Verkaufsbroschüren, Werbegeschenke, Events, Sponsoring, Produktdesign, Shop- oder Ausstellungsgestaltung meinten. Die Gegenargumente waren robust und das vernichtende Urteil war wohl begründet: Das Denken in isolierten Einzelmaßnahmen kann sicher nicht bestehen gegen das integrierte Denken in umfassenden Erlebnisketten. Was bedeutet schon das Erheischen einmaliger Aufmerksamkeit im Vergleich zum nachhaltigen Festsetzen in den Köpfen von Konsumenten? Wie will sich die attraktive Verpackung behaupten gegen den überzeugenden Inhalt? Wie niedlich erscheint der kurzfristige Trend gegenüber der langfristigen Vision? Wer will ich schon anbiedernd verkaufen? Was geschieht mit der Identität (auch eigenen), wenn man sich dauernd anpasst?
Was Markenmacht bedeutet
Die jeweiligen Antworten liegen auf der Hand. Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Konzept des Chamäleons ist klar. Der Sieg ist sicher verdient, unausweichlich, höchstens eine Frage der Zeit. Er basiert auf der argumentativen Wucht des Dogmas. Markenmacht fußt auf der präzisen, eindeutigen, einmaligen Formulierung ihrer zugrundeliegenden Idee. Je enger, prägnanter und neuartiger diese Idee formuliert ist, umso erfolgreicher setzt sie sich in den Köpfen von Konsumenten fest. Markenmacht baut sich auf durch die konsistente und dauerhafte Umsetzung dieser Idee – immer und überall dort, wo Konsumenten ihr begegnen. Und Markenmacht setzt voraus, dass sich der Markenmacher frei macht von störenden Einflüssen Dritter – innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Markenmacht heißt, zugespitzt, immer und überall alles im Griff zu haben. Die Welt des Dogmas.
Man muss nicht so weit gehen und dieses Denkmuster mit den Denkmustern totalitärer Ideologien gleichsetzen, aber auffallen darf schon, dass populär-einfältige Nachrichten, ihre ständige Wiederholung, ohne die Chance zum Entkommen, und das Beherrschen aller
Kommunikationskanäle und Interaktionen, hier wie dort zum geistigen Rüstzeug gehören. Und es dürfen angesichts der offensichtlichen Macht von Marken in unseren modernen Gesellschaften daher durchaus moralisch-ethische Skrupel bei Markenmachern auftauchen.
Schöne neue Welt des Markendogmas?
Sicher ist hierin eine Ursache der eingangs erwähnten Verunsicherung in der Zunft der Markenmacher auszumachen. So verliert das geforderte konsistente Auftreten von Marken ganz offensichtlich etwas von seinem Charme, wenn es zur unerbittlichen weltweiten
Gleichmacherei verkommt und einst bunte Lebenswelten, vielfältige Sozialgefüge und spannungsreiche Kulturen in uniforme Einöden verwandelt: Ein schneller Imbiss besteht dann unentrinnbar aus zwei Brötchenhälften mit Fleisch- , Käse- und Tomatenstreifen
dazwischen. Eine Kaffeepause bedeutet überall Schlange stehen, Vornamen verraten, papierumhüllter Plastikbecher, genormte Produktvielfalt und zufällig wirkende Einheitsinneneinrichtung. Essgewohnheiten, Wohnverhältnisse, Kommunikationsmuster, öffentliche Räume – irgendwo optimiert, dann vielfach imitiert, schließlich weltweit standardisiert. Von der heroisierten globalen Kreativwirtschaft. Die schöne neue Welt des Markendogmas?
Vielleicht für viele ein erschreckendes, dennoch mächtiges Szenario. Aber in keinem Fall ein alternativloses Szenario. Ansatzpunkte für Alternativen sind auf mehreren Ebenen zu finden. Die Suchfelder eröffnen sich, wenn das Denken in Dogmen aufgegeben wird und man sich stattdessen der Welt der Mythen zuwendet. Letztere unterscheidet sich von ersterem – vereinfacht, um das Konzept für Markenmacher nutzbar zu machen – vor allem an folgenden Punkten.
Mythen erzählen komplexere und im Zeitverlauf sich durchaus verändernde Geschichten. Ihre Geschichte existiert nicht als die eine große Geschichte. Es gibt sie in vielen variierenden Geschichten. Stets wiedererkennbar, aber (fast) nie gleich. Die Geschichte ist nicht einfach und eindeutig. Es existieren zahlreiche, selbst widersprüchliche Versionen. Und es gibt deshalb auch andauernde Debatten, wie sie zu erzählen, interpretieren, deuten sind. Diese inhaltliche Vielfalt und die Auseinandersetzung über ihre Deutung beschreiben nicht ihre Schwächen – sie erklären ihren langwährenden, robusten, nachhaltigen Erfolg.
Mythen schaffen vielfältige und im Zeitverlauf sich verändernde Bilder von sich. Wie die Geschichte(n) selbst, ist auch ihre Darstellung variabel. Immer wieder modifizierte Symbole, durchaus unterschiedliche Repräsentanten, stets vielfältigste Erlebnisse, Aktivitäten und Veranstaltungen. Das „Bild“ des Mythos ist nicht starr, in Stein gemeißelt, blind immer wiederholt. Es bleibt (fast) nie gleich. Aber es ist stets wiedererkennbar. Dabei auch manches Mal überraschend. Es löst insbesondere dann die Freude aus, die uns erfüllt, wenn das Liebgewonnene sich vorteilhaft weiterentwickelt. Adäquat zeitgemäß. Hinreichend anlassbezogen. Empathisch empfängergerecht.
Mythen sind das Ergebnis unzähliger, komplexer und durchaus auch emergenter Verhandlungsprozesse. Als Entwicklungsprozesse gleichen sie eher evolutionären Prozessen. Ihr Erfolg basiert nicht auf einsamen Entscheidungen von wenigen Mächtigen. Er basiert auf der Mitwirkung und Mitgestaltung zahlreicher Akteure, die ihr Missfallen oder Gefallen artikulieren. Ihre Handlungsmaxime ist nicht Macht – jedenfalls nicht im Sinne der berühmten Bestimmung, nach der Macht sich dadurch definiert, nicht lernen zu müssen. Ganz im Gegenteil zeichnet gerade Lernfähigkeit machtvolle Mythen aus. Ihre Durchsetzung hat wenig zu tun „mit-dem-Kopfdurch-die-Wand“. Sie ist vielmehr der Fähigkeit geschuldet, sich an neue Bedingungen anzupassen, Widerstände positiv aufzunehmen, Gemeinsamkeiten mit Verhandlungsgeschick aufzudecken und zu Lösungspfaden zu entwickeln.
Sicher ist die Übertragung der genannten Erfolgskriterien von Mythen auf die Entwicklung von Marken mit Risiken verbunden. Die Vielfalt und Komplexität der erzählten Geschichten löst sich leicht in anarchische Beliebigkeit auf. Ein flexibles Erscheinungsbild wird leicht
unerkennbar konturenlos. Und das Einlassen auf Verhandlungslösungen kann leicht zum völligen Kontrollverlust führen. Die Entwicklung von Markenmythen ist daher ein anspruchsvolles Unterfangen. Das Verharren auf dogmatischem Verhalten ist dagegen hoffnungslos. In unseren modernen Gesellschaften sind Geschichten nur dann attraktiv, wenn sie sich (weiter) entwickeln, unterschiedliche Interpretation tolerieren, ambivalente Elemente vereinen. In unterschiedlichen lokalen Perspektiven auf die globale Welt sind attraktive Bilder nur solche, die Schattierungen, Verwerfungen, Strukturreichtum aufweisen. Zentralisierte Machtphantasien müssen Platz machen für verhandlungsbasierte Lösungen, die zur Mitwirkung animieren und ein gewisses Maß an Ergebnisoffenheit tolerieren.
Die Zunft der Markenmacher hat allen Grund zur Verunsicherung. Eine heftige Diskussion ist notwendig. Der starre Blick zurück ist lediglich Ausdruck von Hilflosigkeit. Und das Konzept für morgen ist nur in Umrissen erkennbar: empathische Flexibilität statt ritualisierter Konsistenz, inhaltliche Orientierung statt formaler Gleichschaltung, kuratieren statt beherrschen, Mythos statt Dogma.
Über den Autor: Jürgen Häusler ist Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreut zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig, publiziert laufend zum Thema Marke und hält Vorträge an Universitäten, auf Kongressen und Tagungen.