Herr Professor Dueck, was stresst die Unternehmen derzeit am meisten?
Gunter Dueck: Es reichen wenige Tipping-Points, um das System zu destabilisieren. Es genügt schon, zu hohe Ziele zu setzen. Wenn zu hohe
Ziele formuliert werden, als man eigentlich schaffen kann, dann wählen Mitarbeiter untaugliche Strategien, wie beispielsweise Überstunden,
um sie dennoch zu erreichen. Und das führt dann insgesamt zu einer Überlastung im Unternehmen. Aber man hält die Ziele zunächst ein. Das Management denkt, das hat funktioniert, und fährt damit fort. Das kann fünf Jahre und mehr über Arbeitsverdichtung gutgehen. Ich schätze, nach zehn Jahren ist die Substanz aber aufgebraucht, und dann kippt das Unternehmen in ein hausgemachtes Desaster.
Warum werden überhaupt zu hohe Ziele gesetzt?
Der Punkt zwischen vernünftigem Abspecken und Unterernährung wurde nicht gefunden. In den 80er-Jahren mussten die Unternehmen die Gewinne noch in den Bilanzen verstecken. Dann hat man im Wege von Lean Management gesehen, dass es Verfettung in den Unternehmen gibt, dass man zu viel Kapital gebunden hat, zu viele Mitarbeiter und dass die Arbeit zu locker verteilt war. Das anzupacken war sinnvoll. Aber das ist jetzt umgeschlagen. Nicht nur einzelne Menschen, sondern das ganze System bekommt gewissermaßen einen Burn-out.
Was müsste man tun, um Mitarbeitern das Hamsterrad zu ersparen?
Realistische Ziele setzen. Man muss die Mitarbeiter nicht permanent bedrohen. Wenn zu hohe Ziele gesetzt werden, sind die Menschen sofort wachsam und empfinden, dass sie wieder übers Ohr gehauen werden. Zudem empfinden sie diese Gehaltskürzung über zu hohe Ziele als moralisch, ethisch angreifbar. Früher gab es Festgehälter. Und dann kam die Mode auf, einen leistungsabhängigen Gehaltsteil einzuführen. Das betrifft einen wesentlich größeren Mitarbeiterkreis als früher. Insgesamt wird dann das ganze Unternehmen schwach depressiv. Das merkt das Management und fängt dann an Tschakka-tschakka-Veranstaltungen zu machen. Zu den unethischen hohen Zielen kommt dann noch dieser Begeisterungswahn. Die Depression, die man durch die Ziele aufgebaut hat, will man wieder wegreden und den Mitarbeitern wird vermittelt, dass, wenn sie trotz der hohen Ziele nicht begeistert sind, fast kriminelle Arbeitsverweigerer sind.
Stichwort Big Data: In der Marketingbranche wird ja seit einiger Zeit ein neuer Typus Marketingentscheider gefordert, insbesondere einer, der auch mathematisch-statistisch fit ist, um den Anforderungen an Dateninterpretation gerecht zu werden. Wie sehen Sie die künftigen Anforderungen?
Das Marketing ist auch vom Lean Management erfasst worden. Lean Management hat damit angefangen, dass jeder Unternehmensteil bis fast auf den Hausmeister herunter nachweisen muss, dass sein Dasein berechtigt ist. Das musste das Marketing auch. Das Marketing hat früher einfach geniale Werbung gemacht und das Unternehmen hat sich vielleicht über Imagezuwächse gefreut. Jetzt muss der Marketingentscheider nachweisen, welchen zusätzlichen Umsatz seine Aktivitäten erzielen. Das fällt aber regelmäßig schwer. Deswegen geht das Marketing dazu über, nur messbare Werbung à la Google zu machen, um nachzuweisen, was es gebracht hat. Man rechnet nur
noch in Links und Klicks. Mit gesundem Menschenverstand ist das völlig fragwürdig, denn auch der Klick auf den gesponserten Link ist immer noch kein Beweis, dass dieser Umsatz zusätzlich ist.
Ist das dann noch Marketing?
Marketing verkommt unter diesem Rechtfertigungsdruck aus meiner Sicht zum Vertrieb. Das ist aber nicht Sinn der Sache. Man müsste dann nachdenken, was Marketing überhaupt noch für eine Funktion hat oder ob beispielsweise Marketing Teil des Vertriebs wird.
Meinen Sie, dass das Marketing aus der Nachweispflicht entlassen werden müsste?
Das ist die Frage: Der Darth-Vader-Spot für den VW Passat war überaus erfolgreich und wurde viel beachtet. Aber wurde deswegen ein Passat mehr verkauft? Kann man jetzt beweisen, dass der Passat-Absatz nur deswegen gestiegen ist? Aber old-fashioned gedacht könnte man sagen, dass man mit Kampagnen das Bild der Marke in den Köpfen frisch hält, und finden, dass es für die Hygiene eines Konzerns einfach wichtig ist, damit die Menschen ein positives Bild behalten. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Menschen jetzt schon unmittelbar die Marke kaufen, sondern dass der Kunde dann, wenn er mit der Marke in Berührung kommt, ihr idealerweise mit einer positiveren Grundeinstellung begegnet und dann eher eine Kaufneigung entwickelt. Beim Marketing geht es ja darum, Begeisterung zu entwickeln. Man möchte heute immerzu eine Kausalität herstellen können: Wenn ich im Marketing Geld ausgebe, dann muss das den Umsatz um x Prozent steigern.
Was wäre ein besserer Ansatz?
Der bessere Gedankengang wäre im Zweifel: Kann ich am Produkt was tun? Was will der Kunde? Ich bin beispielsweise völlig erschüttert, dass selbst Displays in aktuellen Modellgenerationen von Pkws meistens noch kein Touch-Display haben. Touch-Displays kosten vielleicht noch 20 Euro. Was denken sich Ingenieure dabei? Oder beispielsweise die Bedienung von Bordcomputern über den Schalter für die Wischblätter empfinde ich als Drama. Hier wünsche ich mir als Kunde einfach eine Android-Oberfläche. Aber Unternehmen neigen dazu, einfach nur Good-enough-Qualität zu liefern.
Wäre es nicht auch eine Form von Effizienz, wenn man ein System nicht permanent bis an die Grenzen überfordern würde?
Ja genau. Man hat sich die japanische Lehre vom Lean Management zunutze gemacht, aber nur den Teil, der die Auslastung von Systemen hochfährt. Dazu gehört aber auch, dass man die Fehleranfälligkeit oder Störungen gleichzeitig herunterfährt. Das ist aber der Irrglaube von BWLern, dass man die Auslastung auf 100 Prozent bekommt und gleichzeitig die Störungen auf null. Dass man eine goldene Mitte finden muss, ist den Führungskräften häufig nicht klar.
Vom gesunden Menschenverstand müsste es aber doch jedem klar sein. Warum entfällt Führungskräften bei Betreten des Firmengebäudes diese so einfache Logik?
Das sind getrennte Kurven. Zunächst schaut man sich die Auslastungs- und Effizienzkurven an und dann später die Kosten für Störungsbeseitigung. Eine ganzheitliche Betrachtung, wie die beiden Effekte zusammenhängen, findet eben nicht statt. Grundsätzlich sind Systeme auch heute komplexer. Es gibt heute mehr Interdependenzen als früher, dass man heute genauer nachdenken muss, welche Aktivitäten welche Folgen haben.
Aber die Intelligenz in den Führungsetagen müsste doch ausreichen, um diese Herausforderungen zu durchdringen …
Es fehlt nicht an Intelligenz, sondern an Zeit.
Das scheint ein Kernproblem zu sein. Jeder hat in seinem Job keine Zeit mehr. Das kann auf Dauer für die Unternehmen doch nicht funktionieren…
Eine große Bank hatte für die Gespräche im Call-Center mit Kunden ein Zeitfenster von drei Minuten festgelegt. Die Mitarbeiter haben sich daraufhin beschwert, dass sie die Kunden so hetzen müssen. Die Zeit wurde auf sechs Minuten verlängert. Die Kundenzufriedenheit verbesserte sich dramatisch. Aber dann stellte das Management der Bank fest, dass für den Dialog ja immerhin 50 Prozent mehr Zeit als vorher investiert werden und dass das jede Menge Geld kostet. Es wird zu viel gerechnet, wo das Gewinnoptimum liegt, anstatt dass man darüber nachdenkt, das zu liefern, was der Kunde erwartet. Der gewinnoptimale Punkt ist wahrscheinlich immer ein anderer als der Punkt, wo der Kunde optimal beraten wird. Das merkt der Kunde und es entsteht Misstrauen, und damit kommt die Abwärtsspirale in Gang. Er wandert nun ab oder vergleicht mehr. Beispielsweise lassen sich Kunden heute bei der Anschaffung einer Küche im Umkreise ihres Wohnortes zehn Küchen zeichnen und kaufen am Ende bei Ikea. Das bedeutet, dass die Unternehmen insgesamt sogar mehr Beratungsaufwand haben, weil sie durch ihr opportunistisches Verhalten opportunistische Kunden herangezüchtet haben. Diese Wechselwirkung muss man verstehen.
Sind wir noch zu retten?
Das Problem: Die Werte „Zeit für den Kunden“ oder „Innovationsfähigkeit“ werden verbal überall hochgehalten und vereinzelt von guten Akteuren auch noch gelebt. Das verhindert gleichzeitig den Genesungsprozess unserer Gesellschaft. Es passiert ganz oft, dass ich etwas als schwarmdumm kritisiere, und dann kommt tatsächlich Widerstand von einem wirklich guten Unternehmen, das nachweislich Best-in-Class ist und für sich in Anspruch nehmen kann, die Werte noch zu leben. Bei diesem Gedanken beruhigt sich aber
gleichzeitig das Mittelmaß nach dem Motto: „So schlimm ist es ja nicht.“
Das vollständige Interview mit Gunter Dueck ist in der Mai-Ausgabe der absatzwirtschaft erschienen.