Die unterschätzte Generation 50+

TikTok, Insta, YouTube – Werbungtreibende verwenden viel Energie, um junge Zielgruppen zu erreichen. Dabei gibt es in Deutschland bald ebenso viele Menschen über 50 Jahren wie darunter. Ist der Jugendwahn noch zeitgemäß?
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Selbstverständlicher Umgang mit der Gen Silver: Jever wirbt seit 2017 mit einem grauhaarigen Surfer für sein alkoholfreies Jever Fun. (© Jever)

Manchmal lohnt der Blick in die Statistik: Aktuell leben hierzulande rund 14 Millionen 14- bis 29-Jährige – eine Altersgruppe, die dem TV zunehmend verloren geht und umso intensiver via Social Media und Video Ads umworben wird. Es sind jedoch nicht nur diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Shampoo, Schokolade und Schuhe kaufen, sondern auch die 65- bis 79-Jährigen, die mit rund 12,8 Millionen Personen eine fast ebenso große Gruppe stellen.

Doch nicht nur diese Gen Silver steht im toten Winkel des Marketings, es fängt schon bei den über 50-Jährigen an – und das, obwohl sich der Bauch der Alterspyramide unaufhaltsam weiter nach oben verschiebt, quasi von der Birne zur Urne.

Bevölkerungspyramide im Zeitablauf: Aus der Birne wird die Urne. ©Statistisches Bundesamt

„Es ist erstaunlich: Viele Unternehmen haben Angst, sie sterben aus, wenn sie sich nicht an jüngere Zielgruppen richten“, sagt Ines Imdahl, Geschäftsführerin und Gründerin des Rheingold Salons, der Konsumenten in tiefenpsychologischen Interviews auf den Zahn fühlt.

Unterschätztes Zielgruppenpotenzial

Obwohl seit Jahrzehnten aufgrund der rückläufigen Geburtenraten bei den 14- bis 49-Jährigen weniger potenzielle Käufer*innen nachkommen, als in Richtung 50+ verloren gehen, verbeißen sich Marketing- und Mediaverantwortliche in die Frage, wie sie die schwindenden Jungen am besten erreichen können. „In der Mediabranche sind wir stark dem Jugendwahn verfallen. Kaufkraft, Markenloyalität und die Potenziale älterer Zielgruppen werden häufig unterschätzt“, sagt Rouven Dankert, Geschäftsführer von Imediag, einem Hamburger Auditor, der Werbungtreibende bei der Überprüfung ihrer Mediastrategien unterstützt.

Altersverteilung in Deutschland im Jahr 2023 (Grafik oben) und 2050 (unten): Der Anteil der Unter-50-Jährigen in der Bevölkerung wird geringer. ©Statistisches Bundesamt

Dabei ist es eine einfache Rechnung: Umsatz ist Menge mal Preis. Je mehr Personen, also potenzielle Käufer*innen, in einem Zielgruppen-Cluster, umso größer ist der mögliche Umsatz. „Auch wenn die Gewinnung jüngerer Zielgruppen sowohl Vitalitätsbeweis für Marken als auch wichtige Investition in die künftige Prosperität der Marke ist, verfehlt die bisherige Fixierung des Marketings auf junge Zielgruppen das eigentliche wirtschaftliche Ziel vieler Werbungtreibender“, so Kim Alexandra Notz, CEO der Agentur KNSK. Sich auch um reifere Zielgruppen zu bemühen, ist daher mit Blick auf Absatz und Umsatz ein lohnender Marketingansatz.

Verstaubtes Bild von über 50-Jährigen in der Werbung

„Viele Marken fokussieren aktuell tendenziell eher jüngere Zielgruppen. Sie sollten vermehrt zusätzlich auch ältere ansprechen“, sagt Anne Joisten, Director OMD Insights, die sich in der aktuellen Analyse „Silver Society – The Underdogs“ intensiv mit dem Thema demografischer Wandel auseinandergesetzt hat. Doch das Bild, dass sich die Werbewirtschaft von Alterskohorten jenseits der 50 macht, ist geprägt von beiger Kleidung und Treppenliften. „Es gibt nach wie vor gewisse Vorurteile über die Generation Silver, die in den Köpfen vorherrschen“, so Joisten.

Dazu gehören beispielsweise Konsumverhalten und -möglichkeiten, die gemeinhin als eher begrenzt eingeschätzt werden. Die OMD-Studie räumt damit auf: 54 Prozent der rund 500 repräsentativ befragten 60- bis 89-Jährigen geben an, zufrieden mit ihrer finanziellen Situation zu sein, 42 Prozent sagen, dass sie sich gerne etwas gönnen und 37 Prozent geben jeden Monat über 200 Euro für Freizeit und Lifestyle aus. Joisten: „Der Konsumspielraum der Generation 60+ ist beachtlich.“ Oder anders gewendet: Von einer solchen Zufriedenheit sind viele 14- bis 29-Jährigen noch weit entfernt.

„Unsere Gesellschaft altert zwar in Lebensjahren, gleichzeitig jedoch erfahren wir eine geistige Verjüngung und bleiben auch körperlich agiler. Dazu kommt, dass die alten Menschen heute so wohlhabend wie nie zuvor sind und mehr freie Zeit in Rente haben als jede Generation vor ihnen“, so KNSK-CEO Notz.

Markentreu bis in den Tod?

Das alles sollte die Älteren für Werbungtreibende attraktiver machen, doch es gilt mit noch mehr Vorurteilen aufzuräumen. „Es gibt viele Mythen über die über 50-Jährigen, beispielsweise, dass sie Marken nicht wechseln oder sich nicht mehr für neue Produkte interessieren. Doch diese sind alle falsch“, konstatiert Rheingold-Salon-Geschäftsführerin Imdahl. Den Befund bestätigen auch die OMD-Daten: Jede/r Fünfte gibt an, seit ein bis zwei Jahren Marken zu kaufen, die sie/er vorher noch nicht kannte. Und mehr als ein Drittel legt Wert darauf, dass Marken innovativ sind. 

Ältere sind allerdings noch markentreuer als junge Zielgruppen. Auch das könnte ein Grund sein, sich stärker auf diese Kohorten zu konzentrieren: „Die Werbeerinnerung in jüngeren Zielgruppen hat dramatisch abgenommen. In älteren Zielgruppen sind Werbeerinnerung und Markenloyalität höher – und damit auch die Kaufwahrscheinlichkeit“, sagt Imediag-CEO Dankert.

Aber wie spricht man sie in der Werbung richtig an? Ines Imdahl beobachtet derzeit eine breite Spreizung, insbesondere bei Frauenbildern: „Gerade Frauen über 50 werden in Marketing und Werbung unrealistisch dargestellt. Sie sehen entweder aus wie 30 oder haben Probleme, die Treppe hinaufzukommen. Wir brauchen ein neues, positives Altersbild“, fordert sie.

Google und Jever mit positiven Impulsen

Dass es auch anders geht, zeigt zum Beispiel Googles Kampagne für das Smartphone Pixel 6 von 2021, in der ein älteres Pärchen bis zum Morgengrauen tanzt. Bei Google sind die beiden Teil eines großen und diversen Protagonisten-Casts, getreu dem Motto: Das Pixel ist für alle da. „Es ist an der Zeit, diese Stereotypen in der Werbung zu überwinden und eine zeitgemäße, souveräne und vielschichtige Darstellung zu wählen. Genau wie es nicht die GenZ gibt, gibt es auch nicht die ältere Zielgruppe“, sagt Kim Alexandra Notz. „Wie alle anderen Zielgruppen auch, variiert sie in Lebenssituation, persönlichen Vorlieben und Interessen und gesundheitlichem Zustand.“ Werbungtreibende sollten daher versuchen, immer nah dran an den Bedürfnissen ihrer Käufer*innen zu bleiben und auch an den sich ändernden Lebenswelten, in denen sie sich bewegen.

Ein weiteres gelungenes Beispiel dafür, dass ältere Protagonist*innen auch für Produkte werben können, die nicht explizit für Senior*innen gedacht sind, ist Jever. Im seit 2017 laufenden Spot trinkt der drahtige, grauhaarige Surfer mit einer Gruppe Jüngerer am Strand ein Jever Fun. Es ist ein selbstverständlicher Umgang mit der Gen Silver. „Ältere wollen sich in der Werbung wiederfinden, wie im Alltag auch“, erklärt Tim Pieritz, Marketingleiter der zur Radeberger Gruppe gehörenden Marke. Aus seiner Sicht ist es wichtig, die „Lebenswelten realistisch zu zeigen“.

Mit der Strategie, das Käuferpotenzial anzupassen und breiter aufzustellen, hat Jever Fun es im Markt der alkoholfreien Biere bis zum Marktführer gebracht. Von einer demografischen Eingrenzung nach Alter hält Pieritz nicht viel, nicht zuletzt, weil die heutigen älteren Zielgruppen länger jung bleiben und sich damit anders verhalten als die entsprechenden Alterskohorten vor 30 Jahren: „Wir planen nach Umfeldern und Lebenswelten“, so Pieritz.

Der passende Mediamix: Digital versus TV

Die Kreation ist jedoch nur das eine, der passende Mediamix das andere. „Marken können sich nicht erlauben, nicht dort zu sein, wo viele potenzielle Kunden sind. Die Jüngeren, die nachkommen, sind zu wenige, um auszugleichen, was die Älteren heute konsumieren“, sagt Grit Leithäuser, Geschäftsführerin der Radiozentrale. TV und Radio als die beiden großen Massenmedien, mit denen sich in kurzer Zeit ein Millionenpublikum erreichen lässt, haben bei allem Digital-Hype noch nicht ausgedient. Denn ihre Strahlkraft reicht weit über die 14- bis 49-Jährigen hinaus.

Die mit der Einführung des Privatfernsehens in den 1980er Jahren vom damaligen RTL-Chef Helmut Thoma ausgerufene Maxime der „werberelevanten Zielgruppe“ war von Anfang an vor allem eins: eine gute Marketingstrategie für den Sender, der im Gesamtpublikum schwach, aber bei den Unter-50-Jährigen stark war. Doch die Folgen wirken bis heute nach. Zwar sagen die meisten Werbungtreibenden, dass sie nicht nach demografischen Zielgruppen planen, sondern nach Vorlieben und Eigenschaften der potenziellen Käufer*innen. De facto wird aber auch heute noch auf 14- bis 49 geschaut und meist auch abgerechnet.

TV ist nach wie vor das Leitmedium in der deutschen Bevölkerung. ©ARD/ZDF

Die Älteren sind dann die berühmten „Streugewinne“ – also Zuschauer*innen, für deren Aufmerksamkeit der Sender nicht bezahlt werden muss, die im Supermarkt aber trotzdem Produkte kaufen, deren Werbung sie im Fernsehen gesehen haben. Je älter die Zielgruppe, umso höher der TV-Konsum. Laut der ARD-ZDF-Studie „Massenkommunikation“ schauen täglich 78 Prozent der 50- bis 69-Jährigen das laufende TV-Programm, aber nur 35 Prozent der 14- bis 29-Jährigen. Hält der Shift von Werbegeld raus aus TV rein in Digital weiter an, kann das dazu führen, dass am Ende der Absatz sinkt, weil weniger (ältere) Personen erreicht werden.

Radeberger-Manager Pieritz sieht daher in der Planung aktuell wenig Anpassungsbedarf, wenn es darum geht, explizit die älteren Zielgruppen anzusprechen. „Solange lineares TV das Leitmedium ist, hat man große Teile der Bevölkerung erreicht. Aber das kann in einigen Jahren ganz anders ein“, räumt er ein.

Auch Ältere verändern ihre Mediennutzung

Denn auch das Mediennutzungsverhalten der Silver Society ändert sich. Die tägliche Sehdauer sinkt, während die Nutzung digitaler Angebote steigt. „Das Kernmedium ist TV. Daran ist nicht zu rütteln. Aber auch digitale Angebote, die von älteren Zielgruppen gut genutzt werden, sollten fester Bestanteil der Mediaplanung sein“, rät daher OMD-Forscherin Joisten. Im Zentrum steht dann weniger TikTok als vielmehr Angebote, die schon lange online sind. Aber auch Shopping-Plattformen gewinnen an Relevanz. Bereits 61 Prozent der 60- bis 69-Jährigen geben laut OMD an, mindestens einmal im Monat online zu bestellen.

Entsprechend klar ist das Fazit von Rheingold-Salon-Forscherin Ines Imdahl: „Unternehmen sollten sich mit diesen attraktiven Zielgruppen beschäftigen, denn es sind mehr Personen als in der GenZ, sie sind kaufkräftig und sie werden noch viele Jahre konsumieren.“

Juliane Paperlein (pap) ist Fachjournalistin und Moderatorin, war Ressortleiterin bei Horizont und Leiterin der Unternehmenskommunikation der AGF Videoforschung. Es sind vor allem die wirtschaftlichen Zusammenhänge in der bunten und niemals langweiligen Marketing- und Medienwelt, die sie interessieren, und sie ist sehr froh darüber, sich von Frankfurt aus mit immer neuen Themen beschäftigen zu können.