Wir wissen im Marketing, wie kraftvoll Begriffe und visionäre Aussagen sind. Konjunktur ist immer nur ein anderes Wort für Stimmung. Wenn eine optimistische, zukunfts-orientierte Geisteshaltung die Katastrophen-Meldungen ersetzt, mag das zwar das sachliche Problem nicht lösen, aber sie strebt eine Lösung an. Obama zeigt der ganzen Welt, wie das geht. Und es gehörte schon immer zu den Aufgaben der Marketing-Fachleute, an die Stelle einer nüchternen Wirklichkeit eine verheißungsvolle Perzeption zu setzen. Vorwärts gerichtet und nicht rückwärts.
Der Umgang mit dieser neuen Realität stellt uns vor große Herausforderungen. Privat, beruflich und gesellschaftlich. Was verlangt sie von uns im täglichen Marketingleben?
Marketing in Echtzeit: Wenn alle besorgt, verunsichert und zögerlich agieren, gilt es, sich darauf präzise einzustellen. Die Nähe zu Zielgruppen und dem, was sie denken, wird wichtiger denn je. Da helfen keine flotten Sprüche mehr, da muss man sich die Gemütslage derer zu eigen machen, die unser Markt sind. Ob Konsument, Einkäufer, Handelspartner oder oder … Wenn die Zeichen auf Risiken vermeiden, Kosten vermindern und Wünsche verkneifen stehen, gilt es, täglich neu auf diese Stimmungen zu reagieren. ‚Marketing in Echtzeit’ würde man das heute nennen.
Kauflust ist nicht genug: Wenn Gesellschaft, Familie und Freunde die Sorgen über die Entwicklung der Welt teilen, dann besteht Verkaufen auch darin, zwei Aspekte zu berücksichtigen: der Verstand sagt Nein. Das Herz sagt Ja. Also geht es nicht mehr nur darum, zu verkaufen, sondern diesen Kauf gleichzeitig zu rechtfertigen oder gar zu „entschuldigen“. Die viel diskutierte Abwrackprämie ist aus Marketing-Sicht ein perfektes Beispiel: Man kauft ein neues Auto, um ein ‚good citizen’ zu sein, umweltfreundlich und gleichzeitig auch ein bisschen schlau, weil der Staat hilft. Nein nein, es geht nicht darum, ein tolles neues Auto zu besitzen. Verkaufen braucht in Zukunft auch den rationalen Anlass. Für sich selbst und erst recht gegenüber anderen. Lust alleine passt nicht in die neue Realität.
Bleibt der Preis unschlagbar? Er wird in Zeiten wie diesen wieder in den Mittelpunkt rücken. Und doch überrascht, dass die Preisschlacht der Discounter in Jan/Feb 2009 nicht erfolgreich war. Die Nur-Schnäppchen-Mentalität des letzten Jahrzehnts scheint an Reiz eingebüßt zu haben. Qualität kommt als Wert zurück. Natürlich nicht anstatt. Die Zukunft liegt im gesunden Preis-Leistungs-Verhältnis der guten alten Tage. „Billig“ allein klingt schon leicht verdächtig, es hat sich an allzu vielen Stellen entlarvt und enttäuscht. Und das nervige Geschrei hat es nicht besser gemacht. Hohe Qualität zum fairen Preis – das scheint die Formel, die in schwierigen Zeiten gesucht wird. Noch dominieren groß geschriebene Preise und Qualitäts-Argumente tauchen nicht einmal klein geschrieben auf. Höchste Zeit, wieder zur Balance des „Value for Money“ zu kommen.
Pareto lässt grüßen: Noch eine bewährte Rezeptur wird in der neuen Realität Karriere machen: das berühmte Pareto-Prinzip. Seit Jahrzehnten weiß die ganze Welt, dass nahezu alles in einem 80 : 20 Prozent Verhältnis steht. Wenn die Mittel knapper werden, ist Konzentration auf die 20 Prozent mit 80 Prozent Wirkung eben eine probate und wirksame Strategie. Wenn nicht jetzt, wann dann? Der Blick auf Sortimente, Vertriebswege, Budgets und vor allem die Prioritäten, nach denen wir unsere Arbeitszeit planen, sollte sich stringent an diesem Gesetz der Verhältnismäßigkeit orientieren. Pareto ist schmerzhaft und fordert hohe Disziplin, ist aber präzise messbar. Der Marketing Controller wird jubeln: „Hab ich doch immer schon gesagt“ werden wir immer öfter zu hören bekommen.
Marketing ist nicht dazu da, die Qual der Wahl zu erhöhen. Das klingt zunächst provokant und steht scheinbar im Widerspruch zur Lehre: Segmentation auf individuelle Zielgruppen. Ganze Bücher wurden darüber geschrieben. Vor lauter Auswahl haben wir die Menschen mehr verwirrt als hilfreiche Orientierung zu geben. Sie stehen irritiert vor übervollen Regalen und fühlen sich allein gelassen. Verstärkt die neue Realität auch den ausdrücklichen Wunsch nach Orientierung? Und wird weniger mehr? Betriebswirtschaftlich war das schon immer so. Der Verdrängungswettbewerb hat das Marketing nur extrem gefordert. Und im Wunsch, es jedem recht zu machen, ging der Fokus verloren.
Kleine Freuden dominieren große Freuden: Die wichtigste Erkenntnis für 2009 wird sein, dass die Menschen sich vorübergehend von den großen Freuden, die sie sich gönnen wollten, verabschieden. Und die kleinen Freuden – hoffentlich vermehrt – an deren Stelle treten. Wie hieß noch das schöne Zitat aus dem Buch „Generation Golf“: Wenn es uns schon schlecht geht, wollen wir es uns wenigstens zwischendurch gut gehen lassen. Die kleinen Freuden werden das Spielfeld des Jahres. Wem es gelingt, zur rechten Zeit die richtigen kleinen Freuden so anzubieten, dass jeder sie für sich oder für andere für angemessen hält, wird den Zeitgeist am besten treffen. Auch ein Stück neue Realität.
Fazit: Gewöhnen wir uns also daran, dass die neue Realität auch neues Denken fordert – manchmal übrigens auch ‚back’ zu den guten alten ‚basics’. Spannend wird es allemal. Marketing sollte beweisen, dass es flexibel und kreativ auf die neuen Bedingungen antworten kann. Eine Chance für die Branche, unseren Beitrag in Richtung höherer Wertschöpfung sichtbar zu machen. Mit viel Mühe, mit viel Engagement. Hier ist die Kurzversion: „Quäl Dich, Du Sau“. So feuerte Uwe Bölts einst Jan Ullrich in den Pyrenäen an. Ein treffenderes Motto für 2009 habe ich bisher nicht gefunden.
Über den Autor: Bernd M. Michael ist Präsident Deutscher Marketing-Verband und Inhaber BMM Büro für Markenarchitektur.