Herr Thinius, die Innenstädte sind ohne Zweifel eines der Opfer von Corona. Hätte sich das verhindern lassen?
MAX THINIUS: Nein, die Städte haben zu lange an industriellen Konzepten festgehalten und die klassische „Innenstadt“ als Einkaufsstadt verteidigt, statt hier gemischte, attraktive Viertel zu gestalten und die lokalen Einkaufsstraßen der Stadtteile zu fördern. Daran waren auch die Vermieter nicht ganz unschuldig mit ihren Preisen für sogenannte 1A-Lagen, die sich nur noch Telefonkonzerne und große Ketten leisten konnten. Dann hat man verpasst die lokalen Stadtteil-Strukturen in regionale Online-Vertriebsstrukturen einzugliedern, mit denen die Wertschöpfung in der Stadt bleibt. Hier hätten auch die Handelsverbände agieren können, haben sie aber nicht. Stattdessen haben alle weitergemacht wie bisher und einfach zugeschaut, wie immer mehr Umsatz an die großen Online-Konzerne aus Amerika abfließt. Corona zeigt nun sehr deutlich, dass sich Strukturen verändern. Die Menschen brauchen die Innenstadt nicht mehr und auch nicht mehr die Einkaufscenter. Sie suchen nach lokalen Möglichkeiten. Jetzt könnte die große Stunde der neuen Konzepte kommen …
Sie bezeichnen die Not der Innenstädte als Chance für eine Renaissance der Stadtviertel. Wie ist das gemeint?
Durch das Arbeiten im Home-Office verschieben sich die Stadtstrukturen. Aus der klassischen Dreiteilung von Einkaufs-, Wohn- und Arbeitsviertel werden zunehmend wieder gemischte Viertel, die alles vor Ort bieten. Paris hat das als Erstes die 15-Minuten Stadt benannt: attraktive, durchmischte Viertel, in denen die Bewohner alles innerhalb von 15 Minuten bekommen oder sich aus anderen Stadtvierteln liefern lassen können, so dass die Wertschöpfung vor Ort entsteht. Wir beobachten diese Entwicklung derzeit in vielen Metropolen, aber auch in kleinen und mittleren Städten, bis runter zu rund 100.000 Einwohnern. Hier ist jetzt Kreativität gefragt und es gibt auch nicht das „eine“ Konzept. Vielmehr muss man sich die lokalen Möglichkeiten anschauen.
Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten?
Für viele irritierend ist: Autos müssen in vielen Fällen raus aus den Städten: Ohne Autos steigt sehr schnell die Lebensqualität in einem Viertel. Das Leben auf der Straße kommt zurück, Geschäfte siedeln sich an, die Kriminalitätsraten sinken und teilweise auch die Arbeitslosenquoten. Allerdings funktioniert das nicht ohne wirklich alternative Mobilitätskonzepte. Das Fahrrad wird dabei eine große Rolle spielen. Aber wir müssen auch den ÖPNV neu denken – zum iÖPNV, dem individuellen öffentlichen Personennahverkehr.
Wie sieht das Leben in den Städten in, sagen wir einmal, 25 Jahren aus?
Es sind nicht nur die Metropolen, sondern vor allem die kleinen und mittleren Städte, die in Deutschland wachsen und sich schnell umstellen werden. Und das bereits ab 2025. In 25 Jahren werden wir neben regionalen und lokalen Händlern auch wieder vermehrt lokale Handwerker haben. Zum Beispiel trage ich Poloshirts einer Kopenhagener Firma aus Wolle. Die Schafe stehen vor den Toren der Stadt. Dank digitaler Technologie kosten die Maschinen zur Produktion einfach nur noch ein Zehntel im Vergleich zu von vor zehn Jahren. Im Textilbereich zum Beispiel 30.000 Euro statt mehr als eine Viertelmillion. Meine T-Shirts und Poloshirts entstehen schon heute fast gänzlich bei mir vor der Haustür in Kopenhagen. Ein internationaler Anbieter von Möbeln lässt Regale in lokalen Tischlereien statt in Asien fertigem. Das funktioniert dank digitaler Produktionsdaten und Maschinen, die die Produktion weitgehend autark erledigen. Das ist zunächst ein Test, funktioniert aber. Mit dem zusätzlichen Effekt, dass ich zu meinem Tischler gehen und sagen kann: „Das Regal aber bitte fünf Zentimeter breiter.“ Das industrielle Konzept mit zentraler Fertigung wird in 25 Jahren ausgedient haben. Selbst kleinste Städte und Dörfer haben so wieder die Möglichkeit lokale Wertschöpfung zu betreiben statt die Euros durch die Welt zu schicken.
Was sind die Folgen für Mensch und Stadt?
Auf diese Weise werden wir abwechslungsreiche und lokal geprägte Städte bekommen, die nicht mehr von monotonen Ketten beherrscht werden. Parallel bekommen wir ja spätestens 2026 den digitalen Euro. Damit werden sich mittelfristig nicht nur finanzielle Werte, sondern auch weitere Daten verknüpfen: Es ist dann nachvollziehbar wie Produkte hergestellt wurden. Wie fair oder regional die Lieferketten verliefen. Wir haben wieder die Möglichkeit eine „Resonanz“ zu unserer Umwelt aufzubauen, die uns in industriellen Strukturen abhandengekommen ist. Gleichzeitig werden in diesen gemischten Vierteln Menschen an jedem Ort arbeiten können. Zu Hause, am Spielplatz, im Café. Firmen werden Co-Working Areas definieren, in denen sich verschiedenen Menschen treffen können. Man wird weniger reisen, aber nicht immer alleine arbeiten. Zu guter Letzt werden wir gesünder leben, denn auch die Produktion unserer Lebensmittel wird wieder lokaler und per Algorithmus werden wir viele Gemüsesorten binnen 24 Stunden nach der Ernte bereits auf dem Teller haben. Die haben dann bis zu 90 Prozent mehr Nährwerte als heute und wir werden 40 Prozent weniger krank. Aber das ist nur ein kleiner Ausblick. Insgesamt: unser Alltag wird sich zu rund 80 Prozent ändern. Das sind 80 Prozent Chancen ihn besser zu gestalten. Aber wir müssen das schon selber tun. Außer uns selbst gestaltet nämlich niemand unsere Zukunft.
Sie verstehen es als Ihre Aufgabe als Futurologe, den Menschen die Zukunftsangst zu nehmen. Hat Corona für die Gesellschaft auch etwas Positives hervorgebracht?
Wenn man die Krankheit mal ausklammert, hat Corona uns sogar gerettet. Es hat Prozesse angestoßen, die wir sonst nie so klar vor Augen geführt bekommen hätten. Dass wir im Digitalen neue Arbeits- und Bildungsstrukturen brauchen, neue Konzepte für die Städte, dass auch kleine Städte davon profitieren. Da wir unseren Alltag ändern „mussten“, haben wir neu gedacht. Ohne Corona wäre es ein viel schleichenderer Prozess geworden, der am Ende mehr Pleiten hervorgebracht hätte. Wir hätten länger versucht sterbende Strukturen zu bewahren. Jetzt ist alles auf den Tisch gekommen und wird diskutiert. Nicht sofort für alle zufriedenstellend und auch nicht schnell genug.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Unsere Kultur hätte beispielsweise noch mehr gelitten als durch diesen gewaltigen Schock, da sich auch sonst niemand darum gekümmert hätte. Und Kultur ist so wichtig für die Entwicklung von Digitalisierung: Künstler setzen sich nämlich mit aktuellen Themen der Zeit auseinander und transferieren sie verständlich in unseren Alltag – und zwar zielgruppengerecht. Ganz so wie jede Zielgruppe einen anderen Künstler bevorzugt. Aber das ist nur ein Beispiel. Das müssen Sie sich auf alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche übertragen vorstellen – und davon haben wir 15. Ohne Corona wären die alle schleichend niedergegangen. So tun sie es wenigstens laut, bewusst und es sind darüber viele Diskussionen und Änderungen in Gang gekommen, die wir sonst vielleicht erst in zehn Jahren oder viel zu spät gesehen hätten. Etwas „tun zu müssen“ kann auch Vorteile haben. Für viele Menschen ist dabei die Erkenntnis entstanden, dass sie „jetzt“ etwas tun müssen. Und das ist auch richtig so, denn Zukunft kann man nur im „Jetzt“ verändern.
Das Interview ist in gekürzter Form auch im Printmagazin der absatzwirtschaft erschienen, das Sie hier abonnieren können.