Stefan P. (Name von der Redaktion geändert) hatte seine Kündigung schon ausgedruckt und unterschrieben, bevor im März 2020 der Lockdown kam. In seiner Digitalagentur gab es bis dahin keine Möglichkeit zum Homeoffice – und Stefan pendelte jeden Morgen gut anderthalb Stunden von seiner Heimat auf dem Dorf in die Stadt. „Ich hatte einfach keine Zeit für meine Kinder oder meine Frau.“
Dann hatte er eine Alternative: ein Technologie-Start-up in der Nähe seines Wohnorts. Etwas mehr Risiko, etwas weniger Gehalt. Aber das wäre es Stefan wert gewesen. Jedoch teilte das Start-up ihm zu Beginn des Lockdowns mit, dass Neueinstellungen wirtschaftlich jetzt doch nicht mehr drin seien.
Aber seine Hoffnung auf mehr Work-Life-Balance war für Stefan trotzdem nicht dahin. Denn mit dem Lockdown schwenkte sein bisheriger Arbeitgeber um: Alle sofort ins Homeoffice. Und die Erkenntnis stellte sich ziemlich schnell ein: Das Ganze funktioniert bestens. Und Stefan hatte all das, was er sich immer gewünscht hatte. Ohne Risiko. Ohne Gehaltseinbußen.
Mehr noch: Mittlerweile hat er sogar eine Führungsposition, die ihm zuvor lange Zeit verwehrt geblieben war. „Ich bin überzeugt davon, dass ich meine Arbeit ohne das ständige Pendeln viel motivierter gemacht habe, weil ich zufriedener bin. Das haben Kolleg*innen und Chef*innen auch gemerkt.“ Ins Büro kommt Stefan, wie die meisten seiner Kolleg*innen, nur noch unregelmäßig – etwa zweimal im Monat. Und das soll auch dauerhaft so bleiben.
Novartis: „Homeoffice für immer“ hielt nicht lange
Es sind diese Aschenputtel-Geschichten, von denen viele Menschen schwärmen, wenn es ums Thema Homeoffice geht. Die Realität sieht oft ganz anders aus. Beim Schweizer Pharmakonzern Novartis zum Beispiel hatte es im Jahr 2020 vollmundig geheißen, dass man Homeoffice für immer und alle anbiete, wann immer die Mitarbeitenden es wollen. Gut drei Jahre später ist von diesem Versprechen nicht mehr viel übrig.
Mindestens 60 Prozent Präsenz wird von den Beschäftigten mittlerweile gefordert. In den deutschen Büros sei allerdings keine Präsenzpflicht in der Betriebsvereinbarung vorgesehen, teilt das Unternehmen auf Nachfrage mit.
Gleichzeitig wirbt der Konzernsitz von Novartis auf der eigenen Kununu-Seite nach wie vor explizit mit Homeoffice als betrieblicher Leistung. Besonders kurios ist, dass an gleicher Stelle Mitarbeitende davon berichten, wie sinnlos die Präsenzpflicht für sie sei: Es gebe teilweise nicht mehr genug Schreibtische für alle. Man würde reinkommen, nur um festzustellen, dass kein Platz frei sei, und dann eben doch von daheim arbeiten. Ein anderer Mitarbeitender beschreibt, dass Homeoffice schlicht nicht gern gesehen wird.
Gerade für diejenigen, die wegen des Versprechens „Homeoffice für immer“ zu Novartis gekommen sind, dürfte dieses Vorgehen einen Vertrauensverlust bedeuten. Wer aus unterschiedlichen Gründen auf Homeoffice gesetzt hat oder sogar darauf angewiesen ist, wird sich bei Novartis nun außen vor gelassen fühlen. Zumindest dem Mangel an Schreibtischen widerspricht das Unternehmen: Es gebe an allen Standorten genügend Arbeitsplätze für Mitarbeitende, so Novartis.
Auch im Mittelstand gibt es die Homeoffice-Lüge
Aber nicht nur Konzerne wie Novartis fallen durch falsche Versprechungen und enttäusche Erwartungen auf. Digooh Media ist eine mittelständische Agentur im Bereich digitale Außenwerbung. In Stellenausschreibungen, beispielsweise bei Stepstone, finden sich immer wieder Hinweise auf die Möglichkeit zum Homeoffice. Doch glaubt man den Kommentaren auf dem Bewertungsportal Kununu, stellt sich das in der Realität anders dar: Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen beschreiben dort, dass Homeoffice nicht gern gesehen sei.
„Zu große Angst vor Kontrollverlust“, schreibt jemand als Grund. „Homeoffice ist ein Fremdwort“, heißt es in einer anderen Bewertung aus diesem Jahr. Zwar gibt es auch Bewertungen, die von einer Möglichkeit zum Homeoffice sprechen, doch der Eindruck bleibt: Das, was die Firma verspricht, hält sie anscheinend nicht ein. Auf unsere Anfrage hat Digooh Media nicht reagiert.
In unserer Recherche zeigt sich auch: Bei vielen Firmen, die Homeoffice in Stellenausschreibungen oder an anderen Stellen versprechen, gibt es keine negativen Kununu-Bewertungen, die auf Probleme in diese Richtung hinweisen. Ein Blick ins Bewertungsportal lohnt also allemal. Aber wenn sich ein Unternehmen – wie Novartis – erst im Nachhinein entscheidet, die Zügel anzuziehen, dann ist das für Arbeitnehmer*innen umso ärgerlicher. Aschenputtel-Geschichten wie die von Stefan P. wird es so sicherlich seltener geben.