Wie bebildert man Barrierefreiheit? Ich habe viel darüber nachgedacht und bin immer wieder zum selben Ergebnis gekommen. Man muss das Thema greifbar machen. Am besten ein weißes Cover mit weißer Schrift – in Braille, so habe ich mir das, als Nicht-Designerin, vorgestellt. Einfach mal den Entscheider*innen der Branche vorhalten, was sie die meiste Zeit mit einem Teil ihrer Zielgruppe machen. Sie ausschließen. Diplomatisch formuliert: Sie für das Thema sensibilisieren.
Als ich am 15. Februar eben diesen Proof mit Blindenschrift in den Händen halte bin ich baff und hippelig. Zwischendurch war nämlich nicht klar, ob wir die Idee wirklich würden umsetzen können. Aber der Reihe nach.
Die Agentur hinter dem Cover
Dass David + Martin den Zuschlag für das Relaunch-Cover bekommen hat, ist kein Zufall. Ich bin regelmäßig im Austausch mit Agenturen. In einem Video-Call vergangenen November habe ich Martin Eggert und David Stephan davon erzählt, dass wir mit dem Schwerpunkt Barrierefreiheit im Marketing starten wollen. Noch bevor ich meine fixe Idee der Visualisierung mit ihnen spiegeln konnte, hatten die beiden sie schon formuliert.
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„Es ist toll, wenn jemand einen Begriff nennt und dieser direkt als Sprungbrett für Ideen dient“, sagt Martin Eggert, Co-Gründer der Agentur David + Martin. „Christa sagte ‚Barrierefreiheit‘ und weil wir über ein Heft sprechen, dachten wir direkt: Wieso also nicht ein Cover, das ja in der Idee zum Sehen und Lesen gedacht ist, für diejenigen gestalten, die aufgrund persönlicher Einschränkungen nicht gut sehen und lesen können? Denn Barrierefreiheit meint vor allem Teilhabe und Inklusion. So kamen wir schnell auf die Kernidee.“
Aus diesem initialen Brainstorming haben sich in den vergangenen Monaten weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit entwickelt: David + Martin hat auch unser neues Logo entworfen, Eggert und Stephan schreiben als Duo für uns ab sofort eine Kolumne.
Der Turning Point: der Playboy in Braille
Die ersten Ideen präsentieren mir Andreas Daum, Luca Dresch, Szymon Rose und David Stephan im Januar. Auf dem zweiten Slide sieht man ein Animated Gif, in Versalien steht darauf: „I have some tragic news for you.“
Es ist ein Dämpfer und irgendwie auch ein Katalysator: In der Recherche sind die Kreativen auf den Braille-Playboy gestoßen, der von 1970 bis 1985 in den USA erschienen ist. Bei einem so visuellen Magazin wie dem Playboy ist die Idee, die Inhalte barrierefrei zu gestalten, umso zwingender. Auch weil die absatzwirtschaft sich nicht in erster Linie an Blinde richtet, denken wir neu. Dieses Mal breiter.
„Braille als Grundlage für das Cover war natürlich naheliegend als erste Idee. Nur hat der ‚Playboy‘ das vor vielen Jahren schon einmal sehr toll umgesetzt und Barrierefreiheit hat ja mehrere Dimensionen und Ausprägungen“, sagt David Stephan, der mit Eggert die Agentur gemeinsam gegründet hat und das Kreativteam leitet. „Daher war der Braille-‚Playboy‘ sogar ein Vorteil, da wir alle gezwungen waren, nochmal einen Schritt zurückzugehen sind und das Thema breiter und größer zu betrachten. Denn es gibt ja viel mehr Barrieren im Alltag und im Konsum von Medien. Viel mehr, als auf den ersten Moment vielleicht sichtbar sind.“
Statt eines typischen Covers mit Titelbild und mehreren Artikel-Teasern wollen wir verschiedene Barrieren aufgreifen. Wie wir dahin kommen? Wir brauchen ein Bindeglied, sozusagen ein Ausgangs-Cover.
Das „normale“ Cover als Basis und Bindeglied
Ausgangspunkt für die Adaptionen ist ein Labyrinth, in das der Schriftzug „Barrierefreiheit im Marketing“ nativ eingearbeitet wird. Auch Menschen ohne Behinderung oder Beeinträchtigung soll sich das Cover nicht sofort erschließen. Ebenfalls wichtig ist uns: Das Labyrinth soll zum Thema hinführen und explizit keine Abschreckung sein, sich mit Barrierefreiheit auseinanderzusetzen.
Sina Kammerer hat das Projekt beratend begleitet und auf Agenturseite koordiniert. Sie sagt: „Das Labyrinth hat für uns mehrere Ebenen. Zum einen stellt es die Barrieren im Alltag für Beeinträchtigte dar, zum anderen hat ein Labyrinth auch immer etwas Spielerisches. Es regt dazu an, das Rätsel zu lösen und den Weg zum Ausgang zu finden. Dementsprechend ist unser Labyrinth als Anregung zu verstehen, Lösungen zu finden, Barrieren abzubauen und damit zu einer inklusiveren Gesellschaft beizutragen.“
Von diesem Ausgangs-Cover wird dann parallel an vier Varianten gearbeitet: je einer für Menschen mit Rot-Grün-Sehschwäche und in Einfacher Sprache, einer Variante für Menschen mit Dyslexie und einer mit Blindenschrift.
Jedes einzelne dieser Cover hat seine Tücken. Um sicherzustellen, dass uns keine Fehler unterlaufen und unsere Ideen wirklich funktionieren, holen wir uns Unterstützung ins Team: Neben den Sozialhelden, die der absatzwirtschaft auch redaktionell und beim Website-Check geholfen haben, sind dies der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund und Isabel Rink von der Universität Hildesheim.
Die vier Cover im Überblick
Rot-Grün-Schwäche: In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen, die farbenblind sind, wie man umgangssprachlich sagt. Weltweit haben rund 350 Millionen Menschen eine Farbsehbeeinträchtigung oder Farbfehlsichtigkeit, wie zum Beispiel eine Rot-Grün-Schwäche.
Wir haben verschiedene Farben getestet. Beispielsweise hatte eine Cover-Variante in Rot-Grün entgegen der Intuition für einige Test-Personen mit Rot-Grün-Schwäche eine sehr hohe Kontrast-Wirkung.
„Die Wahl von Farben ist immer ein essenzieller Teil des Designprozesses. Zu lernen, welche Auswirkungen Farbfehlsichtigkeit auf die Wahrnehmung von Farben haben kann, ist hoch interessant. Gleichzeitig verbessert es unser Verständnis von Farben und deren Wirkung auf den Betrachter im Allgemeinen“, sagt Luca Dresch, Teil des Art-Kreativteams bei David + Martin.
Einfache Sprache: Einfache und Leichte Sprache sollen Informationen auch Menschen mit geringer Bildung, Lernschwäche oder Non-Natives zugänglich zu machen. Wichtig ist hier zum Beispiel, dass Fremdwörter erklärt oder noch besser: vermieden werden. Dasselbe gilt für verschaltete Satzkonstruktionen. (Wobei die niemals eine gute Idee sind!)
„Für die meisten von uns ist die Verwendung von Nebensätzen, Fremdwörtern und abstrakten Begriffen ganz normal“, sagt Andreas Daum, der als Creative bei David + Martin für Text zuständig ist. „Einen Text zu schreiben, der darauf verzichtet, ist spontan gar nicht so einfach und braucht einige Anläufe. Es ist interessant, das mal selbst auszuprobieren.“
Blindenschrift: Nicht nur Wörter, sondern auch Bilder – oder in unserem Fall: das Labyrinth – müssen in Braille übersetzt werden. Bezogen auf die Anordnung der Elemente bedeutet das: Wo steht das Logo? Wo die Ausgabennummer? Und wie ist die Überschrift in das Labyrinth eingebunden? All diese Information liefert der Text in Blindenschrift.
„Hinzu kommt: Wenn Schrift nicht mehr mit dem Auge gelesen, sondern mit dem Finger ertastet wird, ergeben sich ganz neue Herangehensweisen für deren Gestaltung. Angefangen bei Vorgaben zur Schriftgröße bis hin zur Wahl eines geeigneten Druckverfahrens“, sagt Luca Dresch.
Dyslexie: Für dieses Cover haben wir unsere Typo angepasst. Denn für Menschen mit Dyslexie, umgangssprachlich verkürzt als Lese-Rechtschreibschwäche bezeichnet, ist nicht nur ein einfacher Satzbau mit starken Verben wichtig, sondern auch die Wahl der Schrift. Im besten Fall hat diese keine Serifen und wird nach unten breiter. Die Buchstaben sollten enger gesetzt werden und maximal 80 Zeichen in einer Zeile stehen. Auch auf Versalien sollte man bei dieser Zielgruppe besser verzichten.
Auch darüber hinaus breche ein Cover für Dyslexie mit vielen konventionellen Gestaltungsregeln, sagt Andreas Daum: „In diesem Sinne war es protypisch für das gesamte Projekt, bei dem wir alle eine steile Lernkurve hatten. Ehrlicherweise sagt das auch etwas darüber, welche Berücksichtigung das Thema Barrierefreiheit bisher in der Kommunikationsbranche findet. Hier können wir alle noch etwas dazulernen.“
Ich kann ihm da nur ausdrücklich zustimmen. Unterm Strich bin ich sehr froh, dass wir die Cover in ihrer Vielfalt umgesetzt haben. Und ich bin stolz darauf, dass wir trotz mancher Rückschläge und Umwege daran festgehalten haben, sie nicht bloß wegen des Effekts zu machen. Sie sollten dem Realitätscheck standhalten – und das haben wir geschafft.
Wie sie im Markt ankommen, werden wir sehen. Der erste Schritt in Richtung Sensibilisierung der Marketingentscheider*innen ist getan.
Und so geht es weiter
David + Martin ist die erste Agentur, die mit und für uns ein Cover umsetzt. Weitere sollen im Laufe des Jahres folgen. Wer Interesse an einer Zusammenarbeit mit der absatzwirtschaft hat, kann sich gerne bei mir melden.
Achja, das Labyrinth hat übrigens nur eine Lösung. Haben Sie diese schon gefunden?