Von Gastautor Felix Holzapfel, CEO Zone Germany
In der Schule gibt es ja immer wieder den Typ Schüler, der sagt, dass er die Klassenarbeit in den Sand gesetzt hat, um dann doch mit einer Eins mit Sternchen zu glänzen. Man könnte meinen, dass dies auch bei der Digitalisierung deutscher Unternehmen der Fall ist. Leider trifft genau das Gegenteil zu – egal, ob internationaler Konzern, deutsches Vorzeigeunternehmen oder KMU. Und das zu einer Zeit, wo globale Lieferketten die Regel sind und die Digitalisierung weltweit Märkte miteinander verschmelzen lässt. Der Wettbewerb lauert nicht mehr nur in Deutschland, sondern weltweit. International sind viele Unternehmen bei der Digitalisierung bereits einen entscheidenden Schritt weiter. Der Schüler Deutschland muss daher dringend nachsitzen. Er läuft sonst Gefahr, im nächsten Schuljahr von den Strebern abgehängt zu werden.
Im Folgenden eine Liste der prüfungsrelevanten Themen, an denen deutsche Unternehmen mit Hochdruck arbeiten müssen, wenn Sie in der „Schulform“ der „führenden Wirtschaftsnation“ verbleiben wollen.
Mobile First (Aktuelle Schulnote: 5)
Ein führendes E-Commerce-Unternehmen fragte kürzlich, was bei unserer Agentur üblich wäre: „Responsive Design“ oder „Mobile First“? Das heißt: Selbst Trendsetter und führende E-Commerce-Anbieter verharren offensichtlich immer noch in alten Strukturen. Wenn hier nicht umgehend ein grundlegendes Umdenken stattfindet, dann wird Deutschland schlichtweg von der nächsten Generation überrollt. Diese hat bereits heute eine generalistische Sichtweise auf mobile Inhalte, Websites oder Anwendungen.
Digitale Skalierungseffekte (Aktuelle Schulnote: 4-)
Beispiel Handel: Wir müssen dringend weg von einer deutschen Perspektive und die internationalen Maßstäbe von Amazon & Co. anlegen. Denn, es ist nur eine Frage der Zeit bis der amerikanische E-Commerce-Riese mit Volldampf nach Europa bzw. Deutschland kommt, um den Markt auf den Kopf zu stellen. Die Grundsteine mit Amazon Fresh, eine erste Kooperation mit der Kette Rossmann oder Smart-Home-Angebote mit Amazon Echo sind gelegt. Statt eine länderübergreifende Allianz mit anderen Unternehmen in einer ähnlichen Position oder gar eine Kooperation mit Amazon selbst einzugehen, versuchen deutsche Händler ihre eigene Suppe zu kochen. Nutzung digitaler Skalierungseffekte? In der Regel gleich null. So kann man in einem internationalen digitalisierten Markt nicht bestehen. Egal ob als Einzelhändler, Automobilindustrie oder Maschinenbauer.
Kanalübergreifend, Multichannel (Aktuelle Schulnote: 5)
Man sollte meinen, dass Multichannel bereits bei jedem Unternehmen angekommen ist, das mit dem Handel zu tun hat. Workshops mit Kunden, etwa zur Einführung eines neuen Produktes, zeigen uns allerdings immer wieder, Abteilungen sitzen selten an einem Tisch, führende Mitarbeiter kennen sich untereinander kaum. Alle sprechen über 360 Grad oder Multichannel, in der Praxis findet dies jedoch nicht statt und die einzelnen Spezialisten arbeiten nach wie vor getrennt.
Technische Infrastruktur (Aktuelle Schulnote: 5)
Ein Beispiel aus der gängigen Praxis: Unser Ansprechpartner in der Zuliefererindustrie der Automobilbranche ist für die internationale Digitalisierung verantwortlich. Als er das Projekt übernahm, stellte er erst einmal fest, dass ein Kollege in einem anderen Land aktuell für den Website-Relaunch zuständig ist. Das Problem: Der Kollege hatte noch nie ein vergleichbares Website-Projekt umgesetzt. Das Projekt war allerdings bereits so weit vorangeschritten, dass hier lediglich eine Schadensbegrenzung möglich war. Die Website sollte unter anderem eine Bestellmöglichkeit für Geschäftskunden bieten. Bei der Analyse der aktuellen Prozesse fiel auf, dass die Auftragserteilung in der Regel noch via Fax erfolgt. Diese Daten werden dann in eine Excel-Datei eingepflegt, um von dort aus in das Bestellwesen eingetragen zu werden. Dieser Ablauf verursacht natürlich Fehler, kostet Geld und Zeit. Ähnliche Szenarien finden wir bei vielen deutschen Unternehmen – egal ob Mittelständler oder Konzern.
Digitale Transformation (Aktuelle Schulnote: 4-)
Die Banken- und Versicherungsbranche wird heftig von so genannten Fintechs attackiert, Start-Ups, die sich auf Finanzdienstleistungen spezialisiert haben. Etablierte Anbieter haben die Konkurrenz erkannt und man beginnt sich nun auch hierzulande ernsthaft mit dem Thema auseinander zu setzen. So wurde beispielsweise kürzlich in Köln das InsureLab Germany gegründet. Dabei handelt es sich um einen von der Bundesregierung geförderten so genannten Digital Hub. Insgesamt zwölf gibt es davon inzwischen deutschlandweit. Für unsere Verhältnisse beachtlich und durchaus zügig umgesetzt. Doch im internationalen Vergleich hinken wir auch hier hinterher. In China werden etwa innerhalb eines Jahres hunderte solcher Hubs initiiert. Wir sprechen hier also über zwölf digitale Hubs in einer der führenden Industrienationen versus hunderte vergleichbarer Einrichtungen in einem Land wie China. Wer wird hier wohl die Standards entwickeln, die dann internationale Gültigkeit erlangen?
Fazit: Der Abstand zu den Klassenbesten wird immer gravierender
Bereits diese fünf Punkte zeigen mehr als deutlich, warum die deutsche Wirtschaft droht den internationalen Anschluss zu verlieren. Deutschland muss lernen, kollaborativ zu arbeiten, sowohl im Unternehmen als auch über Unternehmensgrenzen hinaus. Das Investitionsverhalten muss sich ändern, weg von jahrelanger Abschreibung auf digitale Infrastrukturen und Services, hin zu einer fortlaufenden Investitionsbereitschaft. Wir brauchen keine Bedenkenträger mehr, sondern agile Innovatoren, die wieder internationale Standards in der Branche setzen, welche zukünftig zentrale Bausteine der wesentlichen Wertschöpfung bilden: die Digital-Branche. Nur so können wir den nächsten blauen Brief im kommenden Schuljahr verhindern.
Über den Autor
Im Jahr 2002 gründeteFelix Holzapfel die deutsch-amerikanische Digital-Agentur conceptbakery. 2016 fusionierte conceptbakery mit der britischen Agentur Zone. Seither ist Holzapfel CEO in Deutschland und Teil des „International Committee“. Er ist Referent und Autor zahlreicher Branchen-Handbücher für digitale Markenführung, darunter „Digitale Marketing Evolution: Wer klassisch wirbt, stirbt“.