Berlin-Friedrichshain, ein Ort pulsierender Kreativität und unternehmerischer Energie. Vor den Cafés rund um das RAW-Gelände sitzen Besucher*innen und genießen lustig schwatzend die Sommerwärme. Hier treffen wir Anne Decker, Co-Geschäftsführerin von WattX, und Jürgen Hase, Geschäftsführer von P-ton. Zwei Protagonisten, die unterschiedlicher kaum sein könnten – doch in ihrem Streben nach Innovation und nachhaltigem Wachstum vereint sind.
Anne Deckers Wurzeln liegen im Sauerland, doch sie liebt den Puls der Metropole. Jürgen Hase lebt in Bielefeld, kennt jedoch viele unternehmerische Welten. Vor der Kulisse eines der lebendigsten Viertel des Landes sprechen wir mit beiden Inkubatoren über ihre unterschiedlichen Zugänge zum Unternehmertum, ihre gemeinsame Leidenschaft für Nachhaltigkeit und über die Zukunft für deutsche Start-ups.
Frau Decker, Herr Hase, wir befinden uns in Berlin-Friedrichshain, einem der beliebtesten Viertel der Hauptstadt. Auch viele Start-ups haben hier ihren Sitz. Ein Muss?
Anne Decker: Ich treibe die Unternehmen eher raus aus den Metropolen. Ich finde, man sollte da gründen, wo man lebt und sich wohlfühlt. Ich persönlich mag es aber, hier am Puls der Zeit zu sein. Deswegen pendle ich zwischen Berlin und dem Sauerland.
Jürgen Hase: Es muss nicht immer Berlin sein. Verbundenheit mit der Region ist vor allem bei Mittelstands-Start-ups zu erkennen. In großen Städten hat man neben dem normalen Business viele Oberwellen und Hypes, tolle Partys und Veranstaltungen. Aber am Ende ist das ja nicht das, worauf es ankommt. Auf dem Land gibt es einen gewissen Pragmatismus, wo Dinge einfach mal angepackt werden. In den Metropolen hingegen herrscht manchmal auch viel Eitelkeit.
Sie finanzieren Start-ups, die die Digitalisierung in Deutschland vorantreiben möchten. Wie schätzen Sie die Innovationskraft der Start-up-Szene ein?
AD: Ich wünsche mir mehr Innovationskraft. Es schlummert eine große Wissenskraft in diesem Land, das merke ich immer wieder, sei es bei Gründer*innen oder kleinen Start-ups. Wir befinden uns momentan in einer Situation, in der Venture-Capital-Investor*innen – VCs – Start-ups zwar finanzieren, aber aktuell nicht jede Idee fördern. Einerseits halte ich das für sehr viel gesünder als frühere Ansätze, aber es bremst Innovationen.
JH: Ich möchte ergänzen: Innovationen waren immer sehr softwaregetrieben, das wollten Investor*innen meistens. Sobald Start-ups einen hardwarelastigen Anteil haben, wird es sehr schwierig. Investor*innen wollen ja etwas Vorzeigbares haben, bevor sie investieren. Eine Software zu präsentieren, ist viel einfacher. Auch glaube ich, dass es in Deutschland eine hohe Willenskraft gibt, aber die Rahmenbedingungen nicht immer optimal sind.
Sie unterstützen auch Start-ups, die Nachhaltigkeit in ihrer Geschäftstätigkeit priorisieren. Welche Kriterien müssen Start-ups erfüllen, damit Sie investieren?
JH: Die Frage ist: Was ist nachhaltig? Nachhaltigkeit bedeutet neben Energieeffizienz auch, dass das Produkt lange auf dem Markt ist, dass Arbeitsplätze geschaffen werden und dass man nicht den schnellen Exit wählt. Bei diesem Thema bin ich nämlich raus, wenn ein Start-up nur auf schnelle Gewinne schielt. Es muss nicht immer das nächste Unicorn sein.
AD: Das kann ich nur bestätigen. Wenn wir einem Start-up zusammenarbeiten, spüren wir, ob das Tech-Team sich wirklich Gedanken gemacht hat und ob Nachhaltigkeit wirklich in allen Dimensionen gelebt wird. Von den verwendeten Materialien bis hin zum Coding kann man nachhaltig handeln. Nachhaltigkeit kann das Geschäftsmodell betreffen, ja. Aber uns ist wichtiger, welche ökologischen, sozialen und technologischen Kriterien bei Nachhaltigkeit erfüllt werden.
JH: Es hat auch damit zu tun, ob etwas sinnstiftend ist, ob wir wirklich einen Lieferservice brauchen, der innerhalb von zehn Minuten liefert. Wo liegen da die Werte?
Seit 2022 leitet Anne Decker gemeinsam mit Simon Müller die Geschicke von WattX, einer Tochter des Heizungsbauers Viessmann. WattX unterstützt Konzerne bei der Gründung eigener Start-ups, sieht sich aber auch als Company-Builder des deutschen Mittelstands.
Vor ihrem Einstieg bei WattX war Decker vier Jahre für Deloitte Consulting tätig. Zuletzt verantwortete sie als Operational Lead die Deloitte Garage und arbeitete als Senior Managerin mit Kunden unterschiedlichster Industrien an Themen rund um Innovation, Digital Transformation und Venture Building.
Apropos Werte: Frau Decker, für Sie sind Bodenständigkeit und Bescheidenheit wichtige Attribute im Unternehmertum. Gehört zum Gründen nicht auch Größenwahn?
AD: Absolut. Aber das ist immer etwas, das gepaart sein muss. Ich komme aus einer Mittelstandsregion, dem Sauerland, und mir wurden Bodenständigkeit und Bescheidenheit mitgegeben. Gründer*innen brauchen Größenwahn, dennoch muss ich auch sagen: Wir sehen so viele hochfinanzierte und überbewertete Geschäftsmodelle, die wahrscheinlich am Schluss niemals profitabel sein werden, beispielsweise bei den zahlreichen Lieferservices oder Sharinganbietern. Hier wünsche ich mir von Investoren und Gründern teilweise mehr Werte wie Bodenständigkeit und Realismus.
JH: Was hingegen den kleinen Start-ups oft fehlt, ist: größer denken, Mut haben. Die klassischen Start-ups kommen meist über die Pförtner*innen. Bis sie mal ins Vorzimmer der Chef*innen kommen, dauert es oftmals sehr lange. Ich rate daher: Einfach mal mutig sein und direkt oben anrufen. Gründer*innen müssen für das Thema brennen, jedoch ohne sich zu verbrennen. Es gibt immer mal einen blöden Montag, aber es muss Spaß machen.
Interessiert Investor*innen nicht meistens maximaler Profit?
AD: Es kommt darauf an, mit welcher Art Investor*in man spricht. Manchmal empfehle ich Start-ups andere Investor*innen. Nicht jede*r passt zu jedem Geschäftsmodell. Ich versuche immer zu schauen: Wo wollen Start-ups hin? Wollen sie schnell verkaufen? Oder sehen sie es wirklich als ihr Lebenswerk? Darin sehe ich unsere Aufgabe, die richtigen Partner*innen zu finden – das sind entweder wir selbst oder andere Investor*innen.
Scheitern Start-ups meistens, weil sie mit falschen Investor*innen zusammenarbeiten?
JH: Ja, das sehe ich so. Bei Start-ups geht es darum: Was sind das für Menschen, die dahinterstehen? Natürlich muss das Produkt zum Markt passen, aber wenn die Menschen früh verbrannt werden oder Haus und Hof verkaufen müssen – man hört viel Schlechtes darüber, was da für Verträge im Hintergrund laufen –, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Druck muss da sein, aber wenn der Spaß weggeht, kommt hinten nur Mist heraus.
AD: Das kann ich bestätigen. Bei den verschiedenen Investitionsphasen sieht man auch, welche Investor*innen hinzukommen und welche rausgehen. Eigentlich ist es bei Start-ups so, dass sich mindestens ein Gründer nur damit beschäftigt, Investor*innen glücklich zu machen …
JH: … und zu bedienen.
AD: Absolut. Das ist Fluch und Segen zugleich. Das geht zulasten unternehmerischer Freiheit. Ich glaube, dass viele Gründer*innen noch nicht wirklich Unternehmer*innen sind.
JH: Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. Aber von solchen Fällen hört man immer wieder. Eine gute Start-up-VC-Beziehung ist wie eine gute Ehe. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, aber bleibt man auch dann zusammen, wenn andere Zeiten anbrechen? Und die kommen immer.
Jürgen Hase, Gründer und CEO von P-ton, ist studierter Nachrichtentechniker und hat einen großen Teil seines Berufslebens mit der Telekommunikation und dem Internet of Things verbracht, in Deutschland sowie im arabischen und indischen Ausland.
2019 gründete Hase mit seinem Sohn Jakob in Bielefeld P-ton. Sie unterstützen als Company-Builder Start-ups dabei, ihre Geschäftsideen in erfolgreiche Unternehmen zu verwandeln.
Was ist in Ihrer Position wichtiger: Menschenkenntnis oder Geschäftssinn?
AD: Ich bin mit Bauchgefühl immer besser gefahren. Wir bringen beide sicherlich viel handwerkliches Wissen mit, aber unser Geschäft basiert nur bedingt auf Erfahrung. Viele Start-ups entwickeln Dinge, die vorher noch nicht auf dem Markt waren, und dazu gibt es im Zweifel gar kein Wissen. Gefühle für Situationen und eine gewisse Street Smartness – also: wann muss ich welche Entscheidung treffen? – das hilft mir am meisten.
JH: Wir kochen alle mit Wasser. Will sagen: Das ist kein Zauberwerk, was wir tun. Viele Dinge sind erlernbar, aber das Gefühl ist wichtig.
Sie scheinen sich in vielen Punkten einig zu sein. Doch es gibt auch Unterschiede zwischen Ihnen: Frau Decker, Sie haben einen Mutterkonzern im Rücken, Herr Hase, Sie nicht. Was ist die bessere Variante?
JH: Als ich bei der Telekom war, hieß es: „Du hast eine gute Strategie? Hier hast du Geld, mach was draus!“ Es ist schön, einen sicheren Hafen zu haben. Auf der anderen Seite fehlt es in dieser Konstellation manchmal an kreativer Freiheit. Jetzt bin ich zwar unabhängig, aber ob das besser oder schlechter ist, kann ich nicht sagen. Das hat beides Vor- und Nachteile.
AD: Wir müssen uns ebenfalls selbst finanzieren, man schenkt uns kein Geld. Wie Jürgen müssen auch wir dafür sorgen, Investor*innen und Partner*innen zu haben. Was man im Unternehmen merkt – vor allem bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die schon lange dabei sind –, sind die Werte. Anders als bei anderen ist es bei uns so, dass wir Familienunternehmen-Werte haben. Wie wir investieren, ist langfristiger gedacht. Deshalb meine ich, dass wir beide uns auch in dieser Sache eher ähnlich sind.
JH: Wir haben ja eben über Nachhaltigkeit gesprochen. Wir setzen nicht auf jeden nächsten Gaul, der dahertrabt. Werte sind uns wichtig. Und wir wollen eine arschlochfreie Zone sein.
Gehört dem Modell die Zukunft, dass ein mittelständisches Unternehmen indirekt Start-ups finanziert?
JH: Das ist ein guter Ansatz. Das dürfte bei familiengeführten Unternehmen einfacher sein. Die Frage ist: Warum ist es für die meisten großen Konzerne so schwierig, Innovationen hervorzubringen? Die scheitern häufig fast alle. Dafür gibt es viele Gründe. Die Lösung kann sein, Innovationen jemand Unabhängigen machen zu lassen. Innovation als „Inside Job“ ist schwierig.
AD: Ich spüre auch, dass immer mehr Unternehmen das tun. Große Konzerne haben das historisch betrachtet früh gemacht, die Familien- und mittelständischen Unternehmen ziehen jetzt nach und bauen Innovationspotenziale weiter aus. Teilweise tun Sie sich auch schwer. Das hängt davon ab, wie stark die Führungsebene involviert ist. Wenn das eines der Prio-Themen ist, dann laufen Innovationsaktivitäten recht gut. Wenn das aber irgendwo angehängt ist und verschiedene Bereiche des Unternehmens um Erfolge konkurrieren, dann wird es schwierig.
Wie sehr lieben Sie das Risiko, Herr Hase?
JH: Ich habe in meinem Leben immer schon verrückte Sachen gemacht. Ich bin immer wieder in Bereiche gegangen, in denen ich Neues lernen musste. Dann bin ich von einem großen Unternehmen in eine 30-Personen-Bude gegangen, als das Thema Machine-to-Machine hochkam. Später war ich ein paar Jahre in Mumbai, nun habe ich mit meinem Sohn in Bielefeld gegründet und wir sind 140 Menschen in diversen Teams. Ich finde, man muss den unternehmerischen Mut haben, aber auch das Risiko abwägen können. Stillstand ist das Schlimmste für mich.
Ist Indien eine Option für Sie, Frau Decker?
AD: Ich habe tatsächlich schon Portfolio-Unternehmen in Indien betreut. Zudem habe ich beruflich sieben Jahre vor allem immer wieder in unterschiedlichen afrikanischen Ländern gearbeitet. Das war eine Zeit, die für mich extrem prägend war. Auch, zu sehen, wie Unternehmer*innen vor Ort Geschäfte aufbauen – mit ganz anderen Mitteln und trotzdem geht alles. Deshalb finde ich es spannend, dass Jürgen die Erfahrung ebenfalls gemacht hat. Ich predige unseren Mitarbeitenden immer: Ihr wisst nicht, mit welcher Kraft und Motivation gemeinschaftlich Dinge hochgezogen werden können. Und das funktioniert auch mit ganz anderen Mitteln.
Sie haben unterschiedliche Positionen: Frau Decker, Sie sind Teil einer Doppelspitze, Herr Hase, Sie haben mit Ihrem Sohn gegründet. Wie wichtig ist Reibung für ein Unternehmen?
AD: Ganz wichtig. Ich kann mir keine bessere Doppelspitze als mit unserem CTO Simon Müller vorstellen. Bei uns ist bewusst viel Reibung da, aber wir setzen uns gezielt zusammen und versuchen, Sachlagen aus verschiedenen Positionen zu sehen. Wir sehen Geschäftsmodelle anders, haben andere Herangehensweisen. Das macht es sehr spannend und ich will es nicht mehr missen.
Das sieht bei Ihnen vermutlich etwas anders aus, Herr Hase …
JH: Das Berufliche hat bei uns wenig mit dem Familiären zu tun. Mein Sohn Jakob und ich haben uns auch schon gestritten und danach ein Glas Wein getrunken. Aber Reibung ist immens wichtig. Viele Unternehmer*innen stellen sich gern Ja-Sager um sich herum. Das ist doch der Worst Case.
AD: Es muss ungemütlich werden können.
JH: Genau, aber trotzdem respektvoll. Reibung muss man aushalten können.