Warum Unternehmen oftmals keine Kundenversteher sind

Wer kennt sie nicht, die Momente, in denen man sich in der Dauerwarteschleife einer Hotline wiederfindet und gedanklich schon mal den Anbieterwechsel durchdenkt. Wie es um die Beziehungen zwischen Unternehmen, Marken und ihren Kunden steht und was das Marketing besser machen könnte. Ein Gastbeitrag.
Marco A. Gardini stellt vielen Marken die "Diagnose" beziehungsunfähig. (© privat)

Von Marco A. Gardini

Für Philip Kotler ist eine der wesentlichen Fragen aus Kundensicht, für die man als Unternehmen eine möglichst überzeugende Antwort haben sollte, die Frage: „Warum sollte ich bei Ihnen kaufen?“ Als ich sie zum ersten Mal in einem Workshop gestellt habe, hätte ich nicht erwartet, das diese scheinbar einfache Frage gestandene Marketing- und Vertriebsprofis ins Schwitzen bringen könnte. Die Antworten fielen jedoch in der Regel eher banal und enttäuschend aus und sammelten sich über die Jahre unternehmens- und branchenübergreifend zumeist irgendwo im Dreieck von Qualität, Innovation und Service. Vom Kunden und seiner Beziehung zum Kunden hat in diesen Workshops nur selten jemand gesprochen.

Aber was suchen Kunden eigentlich in der Beziehung zu einem Unternehmen oder einer Marke? Was ist für die Mehrzahl von Kunden wirklich wichtig? Welche Art, Form und Qualität der Beziehung wünschen sich Kunden? Und wie wird aus einem Kunden eigentlich ein wahrhafter und treuer Fan? Viele Unternehmen haben offenbar – jenseits von sozio-demographischen Daten und simplen verhaltenswissenschaftlichen Modellierungen – nur wenig Gefühl dafür für entwickelt, was eine gute oder einzigartige Kundenbeziehung eigentlich ausmacht und wie sie diese individualisieren und managen können. Die US-amerikanischen Wissenschaftler Avery, Fournier und Wittenbraker beschreiben dieses Defizit in ihrem Harvard-Artikel „Unlock the Mysteries of Your Customer Relationships“ als „lack of relational intelligence“, und so versenken Unternehmen weltweit in schöner Regelmäßigkeit Milliardenbeträge in CRM-Projekte, die ihre Namen eigentlich nicht verdienen.

Was macht nun die Beziehungsqualität oder eine gar einzigartige Beziehung aus? Es wird kolportiert, dass der Erfolgsinvestor Warren Buffet nach dem Erfolgsgeheimnis einer guten Ehe befragt, folgendes zu Protokoll gegeben habe: „It´s not looks, it´s not intelligence, it´s not even money. It´s low expectations.“ Als Deutsche-Bahn-Kunde ist das sicherlich ein guter Ratschlag, allerdings stellt sich, zumindest in wirtschaftlichen Beziehungen, dann doch die Frage, warum man eine wenig zufriedenstellende Beziehung – ausreichende Alternativen vorausgesetzt – eigentlich aufrechterhalten sollte.

Beziehungen werden komplexer

Beziehungen zwischen Unternehmen, Marken und ihren Kunden sind denn auch selten rein rational oder emotional und spätestens seit sich die Machtverhältnisse in vielen hochkompetitiven Branchen zugunsten der Kunden verschoben haben, auch intensiver und komplexer geworden. Es wird kaum überraschen, dass es, analog zur Vielfalt menschlicher Persönlichkeits- und Charakterausprägungen, auch viele verschiedene Arten und Formen von Kundenbeziehungen zu beobachten gibt, die es im Kontext sozialer Interaktionen und wirtschaftlicher Austauschprozesse zu verstehen und zu berücksichtigen gilt. So können Beziehungen formell oder informell, positiv oder negativ, stark oder schwach, freiwillig oder erzwungen, kurzfristig- oder langfristig, symmetrisch oder asymmetrisch und vieles andere mehr sein.

Ein kurzer Blick in einschlägige Beziehungsratgeber oder Disziplinen wie Psychologie, Ökonomie, Verhaltenswissenschaft und Spieltheorie fördert schnell einige gemeinsame Nenner zutage, wenn es darum geht herauszufinden, was sich Menschen beziehungsweise Kunden in der Regel von einer Beziehung erwarten: Vertrauen, Kommunikation, Respekt, Fairness, Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Anerkennung, Commitment, Engagement und anderes mehr. Ein allzu großes Geheimnis sollten diese Erkenntnisse entsprechend eigentlich nicht mehr darstellen, dennoch tun sich viele Unternehmen offenbar schwer, ihre Kundenbeziehungen zu verstehen und zur beidseitigen Zufriedenheit zu gestalten.

Dauerfeuerwerk an Wow-Effekten

Ist die Alternative dann, ein Dauerfeuerwerk an Wow-Effekten zu zünden, mit dem Ziel, durch permanente Kundenbegeisterung seine Kunden dauerhaft zu binden? Ist die Beziehung zum Kunden im Marketing tatsächlich inhaltlich-konzeptionell wie ein Porno zu betrachten, eine Aneinanderreihung von aufregenden Nummern und ekstatischen Höhepunkten, wie es der Marketingkollege Christian Blümelhuber vor einigen Jahren provozierend als These in den Raum gestellt hat? Oder geht es bei der Interaktion zwischen Unternehmen und Kunden doch um etwas anderes als um eine kurze aufflammende Begeisterung?

Angesichts der Tatsache, dass es im Verhältnis zum Kunden eher um enge Beziehungen als um lose Bekanntschaften geht, sollte das Genre Marketing dann doch eher der Liebes- oder Freundschaftsfilm sein und so bedarf es eines Perspektivenwechsels, von einer simplen Kundenorientierung zu einer dezidierten Beziehungsorientierung, mit der Beziehungsqualität als zentraler Erfolgsgröße der Kundenbeziehung. Solange jedoch bei vielen Unternehmen die krude Logik dominiert, Neukunden besser zu stellen als langjährige Bestandskunden, wird aus der ersten vielversprechenden Begegnung und den großen Gefühlen zumeist keine Beziehung für die Ewigkeit.


Zum Autor:

Prof. Dr. Marco A. Gardini ist Professor für Marketing, Tourismus und Internationales Hospitality Management an der Hochschule Kempten. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Zentrum für Tourismus, Vorstand des Mittelstandsinstituts der Hochschule Kempten und in verschiedenen Beiräten diverser privater Unternehmen und öffentlicher Institutionen aktiv. Er verfügt über langjährige Marketing- und Beratungserfahrungen (Droege Group, Bosch/Blaupunkt, DIHK u.a.) und ist seit vielen Jahren als Berater, Coach und Referent unterwegs.


Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Leadership im Marketing – Sechs strategische Leitprinzipien als Erfolgstreiber für eine führende Markt- und Wettbewerbsposition“, Springer Gabler 2021.