Vom Statussymbol zum rollenden Smartphone

Die deutsche Automobilindustrie wuppt eine Doppeltransformation: Elektrifizierung und Digitalisierung. Als wäre das nicht genug, ändern sich zudem die Kundenerwartungen und chinesische Wettbewerber kommen mit coolen Angeboten auf den hiesigen Markt. Los geht’s.
Elektro-Limousine ET5 des chinesischen Herstellers Nio
Die Elektro-Limousine ET5 des chinesischen Herstellers Nio wird seit Ende März auch in Deutschland ausgeliefert. (© Nio)

Die Kundschaft auf dem chinesischen Markt findet deutsche Technik super. Deutsche E-Autos kauft sie aber nicht so gern, denn deren digitale Features enden, mal pauschal gesprochen, bei der Sound- und Ambiente-Anlage. Weil sich aber die Fahrer*innen in China mehr noch als hierzulande eher im Stau bewegen als in rasanter Fahrt, sind deren Autos mit allerlei Info- und Entertainment ausgestattet. Zudem bieten die Hersteller digitale Over-the-Air-Services – das sind Software-Updates, mit denen sich geschwind das neueste Navi oder mehr Reichweite oder eine Sitzheizung dazukaufen lässt.

Der Anteil der E-Fahrzeuge in China explodiert. Laut „Auto, Motor und Sport“ stieg der Absatz 2022 um 90 Prozent auf 5,7 Millionen Einheiten. Davon kamen rund 3,5 Prozent aus deutscher Produktion – dramatischer klingt es umgekehrt: Satte 96,5 Prozent stammten nicht von deutschen Automobilherstellern. Deren E-Fahrzeuge sind im Vergleich zu den chinesischen teurer und hängen Software-seitig den Kundenbedürfnissen hinterher. Laut „Manager Magazin“ verkaufte zum Beispiel Mercedes in China 2022 knapp 12.000 E-Autos, „ein Fiasko“, urteilt das Magazin.

„Die deutschen Automobilhersteller haben die Transformation nicht verschlafen, aber in Teilen unterschätzt“, sagt Helena Wisbert, Direktorin am CAR – Center Automotive Research und Professorin für Automobilwirtschaft an der Ostfalia Hochschule in Wolfsburg. Das gilt insbesondere für die Software-Entwicklung. Zunächst haben die Autohersteller versucht, ihre eigenen Betriebssysteme zu entwickeln. Dafür fehlten letztlich – mit Ausnahme von BMW – die Programmierer*innen und somit das Know-how. Jetzt wechseln die Konzerne ihre Strategie und kooperieren mit Tech-Anbietern. Mercedes arbeitet zum Beispiel für seine Software-Architektur mit Google, Microsoft und Nvidia zusammen; Porsche verhandelt laut „Handelsblatt“ gerade mit Google und Apple über „Blended Ecosystems“, bei denen deren Apps mit dem Betriebssystem im Auto verschmelzen.

Wichtig für die Autohersteller: Sie behalten die Hoheit über ihre Software und die anfallenden Daten. Dennoch ändert sich mit den Allianzen das Geschäftsmodell, sagt Helena Wisbert: Mercedes, VW & Co. werden sich ihre Umsätze für die digitalen Add-ons mit den Kooperationspartnern teilen müssen.

Ziel ist es, den Fahrer*innen im Auto nahezu alle Features zur Verfügung zu stellen, die sie aus der digitalen Welt kennen. Außerdem – mindestens genauso anspruchsvoll – soll ihnen eine ähnlich gute Customer Experience geboten werden. Dazu zählt eine einheitliche Kundenansprache über alle Customer Touchpoints hinweg, vom Touchscreen im Fahrzeug über die Ansprache beim Händler bis zum Kontakt zur Werkstatt.

Deutsche Automobilindustrie setzt auf Direktvertrieb

Auch der Autohandel wandelt sich: Seit 2022 sind alle deutschen Hersteller im Direktvertrieb aktiv. Händler haben eine Vermittlerrolle: Sie kümmern sich um Auslieferung und Betreuung und kassieren dafür eine Provision. Die Hersteller haben damit das Pricing in der Hand, die Händler können keine Rabatte mehr gewähren.

Mindestens so herausfordernd wie die Digitalisierung ist die Hardware-Transformation. Anders als reine E-Auto-Hersteller wie Tesla oder BYD müssen die deutschen Konzerne sowohl in E-Antriebe als auch in die Verbrennertechnik investieren, denn ab 2025 gelten neue Abgasnormen. Das Problem ist, so Branchenkennerin Wisbert, dass die deutschen Marken mit reinen E-Autos kaum Geld verdienen. „Ich möchte Tesla nicht in den Himmel loben, aber Tesla zeigt, dass sich mit E-Fahrzeugen richtig gutes Geld verdienen lässt.“

Lenkrad
Die deutsche Automobilindustrie bekommt neue Gegenspieler: Chinesische Automarken wie Wey und Lynk & Co drängen in westliche Märkte. ©Imago

Während der US-Produzent eine operative Traummarge von 17 Prozent erziele, verzeichne VW als Volumenhersteller gerade mal eine operative Marge von drei bis vier Prozent. Zudem treibt Tesla die Branche mit einer überraschenden Volte vor sich her: Das Unternehmen halbierte den durchschnittlichen Verkaufspreis pro Auto: Kostete ein Tesla im Jahr 2017 im Schnitt noch 110.000 Dollar, waren es 2022 noch 55.000 Dollar. „Durch Teslas Reduzierung der Listenpreise haben wir aktuell einen Preiskampf im E-Auto-Markt. VW hat schon nachgezogen und ebenfalls seine Preise gesenkt“, erklärt Wisbert und ergänzt: „Aus Kundensicht ist das super.“

Zunehmender Wettbewerb droht auch von chinesischen Marken wie BYD, Nio oder Lynk & Co. Sie sind seit 2022 verstärkt in Europa aktiv und kommen mit neuen Produktversprechen, nämlich: Einfachheit, Mobilität und Convenience. Dazu bieten sie attraktive Abomodelle ohne Anzahlung und mit kurzen Kündigungsfristen; die Kund*innen müssen sich um nichts kümmern – von der Zulassung bis zur Inspektion, vom Reifenwechsel über die Reparatur bis zur Kfz-Steuer liegen alle lästigen Dinge bei den Herstellern. „Das wird das Vertriebsmodell der Zukunft sein“, ist Wisbert überzeugt. Aktuelle CAR-Studien zeigen, dass die Angebote auf den großen Abo-Plattformen im März zum Teil günstiger waren als Leasing oder Kauf.

Von PS und Leistung zu Klimawandel und Entertainment

Fahrzeuge werden quasi zu „rollenden Smartphones, die dabei helfen, Mobilitätshürden zu überwinden“, sagt Markenexperte Jürgen Gietl, Managing Partner der Strategieberatung BrandTrust in Nürnberg. Und damit sind wir bei der Transformation der Markenführung. „Die Relevanz von Automobilmarken wird sich signifikant ändern. Es geht nicht mehr um Freiheit, Unabhängigkeit und Höchstgeschwindigkeit, sondern um Komplexitätsreduktion, Lösung der Mobilitätshürden, Klimawandel, Vernetzung und Entertainment“, prophezeit Gietl.

Vom deutschen Auto-Marketing verlangt das ein neues Denken. Früher war es ein Stück Freiheit, ein Auto zu besitzen. Heute ist es cool, kein Auto zu besitzen, sondern Tesla, BYD oder Lynk & Co im Abo zu nutzen und sich um Finanzierung, Wertverlust oder Serviceintervalle keine Gedanken machen zu müssen.

Deutsche Marken reagieren unterschiedlich auf die neue Gemengelage: Mercedes setzt strikt auf Luxus, BMW kommuniziert Fahrspaß und technologische Innovation, VW will zum Software-getriebenen Mobilitätsanbieter werden. Aber, so moniert Gietl, man wisse immer noch nicht genau, wofür die Marke VW eigentlich steht. Was laut dem Markenfachmann allen gemein ist: Sie stellen nach wie vor das Auto als Objekt der Begierde in den Mittelpunkt, statt – wie so manche chinesische Konkurrenz – auf die „echten Knappheiten“ der Kund*innen einzugehen. „So positioniert sich die Newcomer-Marke Lynk & Co beispielsweise auf ‚einfach‘, dem Gegenentwurf zu unserer komplexen Welt.“

Was die Hard- und Software-Transformation betrifft, haben die deutschen Autohersteller dank Milliardeninvestitionen bereits mächtig aufgeholt. In Sachen Markenführung dürfte noch einiges passieren. Noch halten sich die chinesischen Anbieter in der Markenkommunikation zurück. Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, wann sie massiv in die Werbung einsteigen. Und dann wird sich zeigen, ob die Positionierung der deutschen Marken noch trägt.

(vh, Jahrgang 1968) schreibt seit 1995 über Marketing. Was das Wunderbare an ihrem Beruf ist? „Freie Journalistin mit Fokus auf Marketing zu sein bedeutet: Es wird niemals langweilig. Es macht enorm viel Spaß. Und ich lerne zig kluge Menschen kennen.“