von Gunnar Sohn
„Mit vereinfachten Produkten wie Flat Rates geht jetzt aber der Beratungs- und Kommunikationsbedarf deutlich nach unten. Zudem arbeiten die TK-Firmen an einer Verbesserung der Prozesse für die Erstellung von Rechnungen oder dem Wechsel des Anbieters. Hier spielt die Verbesserung der Informationstechnologie eine große Rolle. Das führt zu weniger Anfragen und Reklamationen. Folglich sinkt das Anruf-Volumen. Zudem haben die Gesetzesverschärfungen zu einem dramatischen Einbruch des Outbound-Geschäftes geführt“, schildert Henn im Interview mit dem absatzwirtschaft-Fachdienst MarketingIT. Eine Veränderung finde auch auf Seiten der Konsumenten statt.
„Das Kommunikationsverhalten ändert sich, besonders bei der jungen Generation, die Anrufe im Call Center ‚uncool‘ findet. Darüber hinaus machen mobile Apps und macht der Smartphone-Siegeszug viele Dienstleistungen der Call Center überflüssig. Mit dem Web-Zugriff an jedem Ort, zu jeder Zeit gibt keine Notwendigkeit mehr, Hotline-Anrufe zu tätigen“, sagt Henn, Geschäftsführer von Marketing Resultant in Mainz. Die tektonischen Verschiebungen wären jetzt schon sichtbar. „In den vergangenen zwei bis drei Monaten gab es eigentlich keinen Tag, wo eine O2, eine Arvato oder irgendeiner von den ganz großen Call Center-Anbietern nicht verkünden musste, ‚Standortschließung’, ‚Zusammenlegung’, ‚Konsolidierung’, ‚wir würden gerne verkaufen’. Der letzte Fall war dann Defacto, die 60 Mitarbeiter entlassen haben. Die haben einen Energieversorger als Kunden verloren. Es gibt jeden Tag diese Horrormeldungen aus Sicht der großen Call Center-Betreiber und auch jener Unternehmen, die für den Boom der Call Center gesorgt haben: der Telekommunikationsindustrie“, weiß Henn zu berichten.
Verstärkt werde dieser Trend durch eine neue Wechselbeziehung von Unternehmen und Kunden über soziale Netzwerke. „Es ist eben Humbug, wenn Branchenvertreter meinen, dass ein persönlicher Dialog nur über telefonische Dienste geführt werden kann und deshalb auch in Zukunft favorisiert wird. Ein Twitter-Dialog kann genauso persönlich oder unpersönlich sein wie ein Telefonat. Telekom_hilft ist ein super gutes Beispiel dafür, dass auch bei Twitter eine Art persönlicher Dialog stattfindet und zum Teil auch ein Dialog zwischen einem Kunden und einem Telekom-Mitarbeiter. Doch auch der Rest der Gemeinde kann davon profitieren. Ist das jetzt unpersönlicher oder persönlicher? Ich glaube, es ist genauso persönlich“, erläutert Henn.
Im Kundenservice gehe der Haupttrend eindeutig in Richtung einer stärkeren Automatisierung und Rationalisierung klassischer Call Center-Aufgaben, bestätigt die Marketingprofessorin Heike Simmet von der Universität Bremerhaven. „Die damit verbundene Zunahme des Self-Services und die gleichzeitig erfolgende Anrufvermeidung erweisen sich angesichts des zunehmenden Kostendrucks für viele Call Center als sinnvolle Strategie. Vor allem die Beantwortung einfacher Standardauskünfte verlagert sich immer stärker ins Netz. Die individualisierte und persönlich erfolgende Betreuung von Kunden über Call Center-Mitarbeiter wird sich in Zukunft hingegen auf eine immer kleiner werdende Zielgruppe im Premium-Segment der Mehrwertdienste konzentrieren. Das Spektrum der Self-Service-Angebote werde vor allem durch die wachsende Akzeptanz von Social Media im Kundenservice immer größer. Es gibt animierte Fragen/Antwort-Angebote, Serviceblog, Twitter-Konten für Serviceanfragen, Wikis, Foren, Kundenportal und Communitys, die nach dem ‚Kunden-helfen-Kunden-Prinzip‘ funktionieren“, stellt Simmet gegenüber MarketingIT fest.
Fast wöchentlich würden innovative Web-Plattformen entstehen, die den Kundenservice unterstützen. Aktuelles Beispiel sei die Community Brandslisten.com. „Sie funktioniert wie ein Forum mit angeschlossenem Lexikon. Die für alle sichtbaren Fragen werden sowohl von Mitarbeitern als auch von erfahrenen Kunden beantwortet. Sie werden gespeichert und für künftige Anwendungen gesichert. Erster großer Anwender ist die E-Plus-Marke Base. Mitarbeiter, Kunden und Technologie verschmelzen bei den neuen Self-Service-Angeboten zu einer neuen Serviceeinheit im virtuellen Raum“, erklärt Simmet.
Wo die Reise hingeht, könne man am Konzern LG ablesen, betont Bernhard Steimel, Sprecher der Smart Service-Initiative. „Der Elektronik-Riese baut seine Präsenz in sozialen Netzwerken aus. Sehr schnell bildete sich eine Community von mehr als 30 000 Kunden. 60 Prozent der Postings bestanden aus Serviceanfragen: Probleme mit der Technik, Fragen nach Reparaturmöglichkeiten, Inbetriebnahme von Geräten und vieles mehr. Management und Serviceabteilung setzten sich zusammen und bildete eine Task Force, die damit begann, die Probleme abzuarbeiten. Drei Monate nach der Gründung der Community wurde der Kunden-helfen-Kunden-Effekt immer prägnanter. 70 Prozent der Serviceanfragen werden mittlerweile von Bloggern oder Community- Mitgliedern selbst beantwortet. Nur rund 30 Prozent mussten von Mitarbeitern der Serviceabteilung bearbeitet werden. Mit wenigen Postings im Netz, die vom Unternehmen selbst kommen, gewinnt LG in den sozialen Netzwerken eine unglaublich hohe Reichweite. Zum Beispiel konnten mit 47 Blogpostings die Probleme von rund 30 000 Kunden gelöst werden. Die Kosten pro Nutzer liegen bei zwölf Cent. Sie wären deutlich höher, würden sich die Kunden mehrheitlich über die Hotline an das Unternehmen wenden“, so die Erfahrung von Steimel.
In den nächsten fünf bis zehn Jahren rechnet der Service-Experte Henn mit einem drastischen Schwund bei den ganz großen, volumenstarken und einfach gestrickten Call Center-Dienstleistern. „Das sind die ersten, die vom Aussterben bedroht sind. Die Firmen werden zum einen ihre Prozessfehler reduzieren und zum anderen werden sie ihren Kunden, wie die Telekom es angefangen hat, Communitys und Plattformen zur Verfügung stellen. Die Kunden werden sich selbst organisieren und auf andere Weise mit dem Unternehmen kommunizieren“, prognostiziert Henn.
Gunnar Sohn ist Chefredakteur des Online-Nachrichtendienstes „Neue Nachricht“.