Mangelnde Vernetzung der MarTech-Landschaft macht vielen Unternehmen zu schaffen – behauptet jedenfalls Yamini Rangan, CEO des US-Unternehmens HubSpot: „Ihre Systeme und Daten sind aufgrund von zusammengeschusterten Einzellösungen nicht richtig miteinander verbunden.“ Abhilfe will HubSpot mit seiner CRM-Plattform schaffen, die Marketing-, Vertriebs-, Service-, Operations- und Website-Management-Produkte umfasst und ständig ausgebaut wird. Im September wurde die neue Funktion „Customer Journey Analytics“ angekündigt. Marketer sollen damit detaillierte Visualisierungen erhalten, um bestimmte Momente in der Customer Journey zu identifizieren, die noch optimiert werden können.
Rangan bedient das bekannte Narrativ der großen MarTech-Anbieter: „Zusammengeschusterte Einzellösungen“ bringen nichts, man greife doch lieber zum Komplettpaket aus einer Hand – da passt dann alles nahtlos zusammen. Aber ist das wirklich so? Die Grundsatzfrage dahinter ist fast so alt wie die Technologie selbst: Sollte man sich besser auf ein All-in-One-System verlassen oder eine Best-of-Breed-Lösung vorziehen, bei der man sich für jede Anwendung den attraktivsten Anbieter heraussucht?
Die Entwicklung in den vergangenen Jahren hat die Beantwortung der Frage nicht einfacher gemacht. Die MarTech-Welt ist deutlich komplexer geworden, weil viele neue Kommunikationskanäle wie etwa die sozialen Medien hinzugekommen sind. Und diese müssen reibungslos mit allen anderen Komponenten verknüpft werden. „Vor ungefähr fünf Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass man eine Plattformlösung braucht, wenn man alle kundenbezogenen Daten für alle Kommunikationskanäle nutzen will – quasi ein zentralisiertes Gehirn“, berichtet Markus Erwin, Senior Sales Go-to-Market Lead für die Adobe Experience Platform DACH & Eastern Europe. Diese Entwicklung spielt den großen Anbietern in die Hände, weil mit der wachsenden Zahl von MarTech-Anwendungen das „Cherrypicking“ aufwendiger geworden ist. „Das heißt aber nicht, dass alle Komponenten von einem Anbieter kommen müssen – was ja auch kaum möglich ist“, sagt Erwin. „Adobe bietet zum Beispiel kein CRM-System an.“
Adobe kauft sich die Komponenten zusammen
Die zunehmende Komplexität schafft aber auch immer wieder Lücken, in die kleine oder neue Anbieter mit sehr speziellen und vor allem technisch avancierten Lösungen stoßen können. Für die Großen ist es dagegen nicht einfach, die komplette Bandbreite auf dem Status quo der Technik bereitzuhalten. Adobe habe daher im Laufe der Zeit viele Unternehmen übernommen und deren Komponenten in das Angebot integriert, so Erwin. „Alle Komponenten können nach wie vor auch problemlos als Einzelprodukte genutzt werden.“ Das ist für Adobe strategisch notwendig, weil nur sehr wenige Unternehmen die gesamte Adobe-Plattform nutzen. „Kunden blicken oft zunächst skeptisch auf All-in-One-Lösungen, weil ihnen noch Erfahrungswerte in der Zusammenarbeit mit einem Anbieter fehlen“, so Erwin. „Es steckt daher aus Sicht von Adobe noch einiges ungenutztes Potenzial im Markt.“
Zu den Unternehmen, die weite Teile des Adobe-Portfolios nutzen, gehören Henkel, Telefónica und der FC Bayern München. Der Fußball-Rekordmeister hat gerade eine mehrjährige Partnerschaft mit Adobe beschlossen, um personalisierte Fan-Erlebnisse zu schaffen und zu organisieren. Die Bayern nutzen eine ganze Reihe von Tools: die Adobe Experience Cloud, Adobe Real-Time CDP, Adobe Document Cloud und Adobe Acrobat Sign.
Marketing-Tech-Stack ist abhängig von den Anforderungen
Aber was sollte den Ausschlag für All-in-One oder für Best-of-Breed geben? „Es gibt keine pauschale Antwort“, betont Ralf Strauß, Managing Partner Marketing Tech Lab und Präsident des Deutschen Marketing Verbandes (DMV). „Alles hängt von den Anforderungen ab, die man vor der Entscheidung sehr genau definieren muss.“ Welche Aufgaben sind für ein Unternehmen besonders wichtig? Wo reicht dagegen ein Produkt von der Stange? Auch müsse man berücksichtigen, wie viel Erfahrung die Projektleiter mit den Lösungen haben. „Viele Projekte kämpfen mit Projektleitern, die ein Themenfeld zum ersten Mal machen (müssen)“, so Strauß. Best-of-Breed-Strategien können laut Strauß Kostenvorteile haben: „Bei All-in-One besteht die Gefahr, zu viel einzukaufen. Überlizenzierungen von 25 bis 30 Prozent sind im Markt beim Einsatz von All-in-One Suites häufig zu beobachten.“ Weitere Vorteile von Best-of-Breed: Man kann sich jederzeit für das neueste und modernste Angebot entscheiden, die Lösungen passen individueller zum Unternehmen, Abteilungen können mit ihren jeweiligen „Lieblingssystemen“ arbeiten und das Ausfallrisiko wird geringer, da man nicht nur von einer Plattform abhängig ist.
Tendenziell könne man sagen: „Je höher der Reifegrad eines Unternehmens in puncto MarTech, desto eher werden Best-of-Breed-Lösungen avisiert“, resümiert Strauß. Sein Rat für die Unternehmen: „Selbst Kompetenzen aufbauen – Beurteilungsfähigkeit und Sprechbarkeit gewinnen auf der Grundlage eigener Anforderungen – und alle verfügbaren Informationen nutzen, bevor sie in die Gespräche mit den Anbietern gehen.“
Tausende Anbieter und Tools am Markt
Wer wissen will, welche Anbieter und Tools überhaupt auf dem internationalen Markt sind, kann die regelmäßig aktualisierte „Marketing Technology Landscape“ des amerikanischen MarTech-Bloggers Scott Brinker durchforsten, die mittlerweile über 9000 Einträge listet. Eine Version für den deutschen Markt haben Jens Polomski (Jens Marketing), Frans Riemersma (MartechTribe) und Ralf Strauß (Marketing Tech Lab) im Herbst 2021 erstellt. Noch interessanter können aber Vergleiche sein: Wie sieht der Marketing-Tech-Stack eines Unternehmens aus, das in meiner Branche unterwegs ist und ähnlich groß ist? Das Marketing Lab hat eine globale Benchmarking-Datenbank erstellt, die 11.000 MarTech-Anwendungen und 900 Tech-Stacks umfasst. Darüber kann man anonymisiert den eigenen Status quo mit der Konkurrenz abgleichen.
MarTech-Features gleichen sich immer mehr an
Natürlich kann man sich beim Aufbau des Tech-Stacks auch von spezialisierten Agenturen helfen lassen, die den Bedarf prüfen. „Die Entscheidung für Best-of-Breed oder All-in-One hängt vom Budget und von der Komplexität der Aufgabenstellung ab“, erklärt Oliver Czok, Chef der Agentur-Holding MAI Group (Marketing Automation Intelligence). Bei der Wahl eines Tool-Anbieters sei ein Blick auf die Qualität der Beratungsleistung auch nach der Implementierung wichtig, so Czok: „Dieser Faktor wird häufig unterschätzt.“ Derweil gleichen sich die Features der einzelnen Software-Anbieter zunehmend an, beobachtet Marcus Krautkrämer, Team Lead Marketing Automation & CRM bei der Digitalagentur Mediaworx, die zur MAI Group gehört. „Im Service und im Set-up gibt es aber große Unterschiede.“ Für Krautkrämer stehen die Suite-Anbieter nicht mehr im Verdacht, neben den „Hero-Produkten“ auch viele Lückenfüller im Programm zu haben: „Es gibt mittlerweile sehr gute All-in-One-Lösungen, die Qualität ist in den letzten Jahren besser geworden.“ Der Grund: „Die großen Anbieter neigen nicht dazu, den Kunden im Bundle überflüssige Features mit zu verkaufen“, so Krautkrämer. Sie seien in erster Linie an der Kundenzufriedenheit interessiert, da sie erst nach vier oder fünf Jahren mit den Systemen wirklich Geld verdienen: „Wenn der Kunde vorher wieder abspringt, ist das ein Problem.“
Die wenigsten Marketer*innen haben eine klare MarTech-Strategie
In der DACH-Region liegt der Fokus der Marketer*innen beim Aufbau ihres Marketing-Tech-Stacks vor allem auf den etablierten Suite-Anbietern. Das ergibt die Studie „Marketing Tech Monitor 2022“ des Hamburger Marketing Tech Lab.
Danach halten es die Befragten für zunächst einfacher, mit einer geschlossenen Lösung zu beginnen und grundlegende Prozesse zu erlernen. Ist ein gewisser Reifegrad erreicht, kann sich das zugunsten von Best-of-Breed-Strategien ändern. Allerdings: Nur ein Prozent der Marketer*innen geben an, dass ihre MarTech-Landschaft vorausschauend optimiert ist. Immerhin ist der Marketing-Tech-Stack aber bei 47 Prozent dokumentiert und nachvollziehbar.
Jeder Fünfte dagegen hat keinen Überblick. Selbst Großunternehmen geben an, dass sie nicht wissen und nachvollziehen können, welche Anwendungen in den verschiedenen Bereichen und Märkten bestehen und was effektiv genutzt wird. Für den „Marketing Tech Monitor“ wurden die Angaben von 295 Marketingleiter*innen und -vorständ*innen sowie Leiter*innen Digitalmarketing/Online-Marketing in der DACH-Region ausgewertet, die im Februar 2022 befragt wurden. Zusätzlich wurden 30 Expert*innen-Interviews geführt.