Der Kunde als Entwicklungshelfer

Als Automobilzulieferer sieht Webasto Endkunden zunehmend als Partner. Integriert in den Entwicklungsprozess, helfen sie, das Risiko innerhalb der Produktentwicklung deutlich zu reduzieren.

90 Prozent aller Produktinnovationen enden als Flops. Auf der einen Seite ist diese Erkenntnis weder für Forscher noch für die betrieblichen F&E-Abteilungen neu, auf der anderen Seite wird wenig unternommen, um die Flop-Rate aus strategischer Sicht systematisch zu reduzieren. Eine Idee ist hier, Endkunden stärker in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Open Source heißt das Stichwort. Aber ist das so einfach?

Wie viele andere deutsche Unternehmen, die in den vergangenen Jahren stark unter Kostendruck geraten sind und in einer Positionierung als Innovationsführer eine deutlich bessere Stellung auf dem Weltmarkt zu erreichen versuchen, sieht auch die Webasto AG einen deutlichen Wettbewerbsvorteil in der Entwicklung und Herstellung von sehr innovativen Produkten. Hierbei handelt es sich vor allem um Dach- und Thermosysteme für die Automobilindustrie. Hervorgehoben seien hier neben den etwa 50 Prozent Weltmarktanteil am klassischen Schiebedachgeschäft die Cabrioverdecksysteme des Smart, des Mini oder die Groß dächer der E- und S-Klasse sowie die sehr traditionsreiche Standheizungssparte. Die Positionierung als Innovationsführer bringt jedoch sehr hohe Entwicklungskosten mit sich. So wurden zwar in letzter Zeit deutliche Maßnahmen zur Senkung der F&E-Kosten ergriffen, aber der F&E-Anteil am Umsatz bewegt sich derzeit immer noch um acht Prozent.

Allerdings garantieren auch diese acht Prozent nicht den Erfolg aller entwickelten Produkte. So hat die Webasto AG auch weniger erfolgreiche Produkte. 2001 war das von Webasto entwickelte und produzierte Cabrioverdecksystem Teil des damals meistverkauften Cabrios in Deutschland. Der Käufer eines Fiat Stilo könnte sich auch für ein Lamellen-Glasdach analog der A-Klasse entscheiden, leider tut er das nicht sehr häufig. Was könnte die Ursache sein?

WEBASTO AG
Webasto führt mit seinen traditionellen Produktgruppen, Standheizungen und Schiebedächern, mit je etwa 50 Prozent Marktanteil seit Jahren den Weltmarkt an. Das Management konnte den Konzernumsatz des Unternehmens 2004 um 6,3 Prozent auf 1,445 Milliarden Euro steigern. Das Unternehmen erzielte 2004 ein Ergebnis von 43,5 Millionen Euro (2004/Vorjahr: 37,5) und beschäftigte 6 200 Mitarbeiter.

Zentraler Punkt des Kaufprozesses von Sonderausstattungen ist beim Endkunden der Trade-off zwischen Preis und Mehrwert, der sich über die endkundenrelevanten Produkteigenschaften definiert. Da der Preis relativ fix und in jedem Fall vom Automobilhersteller bestimmt ist, kann sich zum Beispiel das Produkt des klassischen Schiebedachs nur gegen die zunehmende Flut neuer Sonderausstattungen behaupten, wenn dessen endkundenrelevante Eigenschaften den Preis rechtfertigen. Hierin liegt nun die Aufgabe. Die endkundenrelevanten Eigenschaften müssen definiert und die entsprechenden endkundenorientierten Produkte mit dem Automobilhersteller gemeinsam entwickelt werden. Bei dieser Aufgabe fällt den Endkunden eine entscheidende Rolle zu. Hier gibt es ganz unterschiedliche Qualitäten der Zusammenarbeit zwischen Endkunden und betrieblichen Entwicklungsabteilungen.

Der traditionelle Fall ist die klassische Marktforschung. Der Endkunde gibt Input zu einem bestehenden Prototypen, einer Produktidee oder einem Vorschlag, wobei alle bereits realisiert sind; es geht um das Bewerten und Beurteilen. Die zweite Stufe ist die Endkundenintegration. Hier wird mit Endkunden in Ideenworkshops über Bedürfnisse diskutiert und daraus neue Lösungskonzepte abgeleitet. In der dritten Stufe, der Interaktion, werden beispielsweise in virtuellen Communities neue Ideen kreiert oder technische Problemstellungen gelöst.

Endkundeninput vorverlegt
Um nicht ausschließlich auf die Rahmenbedingungen seitens der Automobilhersteller angewiesen zu sein, führt die Webasto AG schon seit langem Marktforschungsmaßnahmen durch. Endkunden werden zu bestehenden Produktkonzepten befragt und gegebenenfalls Konzepte für Anpassungen formuliert.

Seit Einführung einer Endkundendatenbank auf Siebel-Basis können Maßnahmen zur klassischen Marktforschung
deutlich kostengünstiger und zeitlich flexibler durchgeführt werden. Dabei wurden, bis auf einige Spezialtätigkeiten wie die Moderation von Fokusgruppen oder dem Massenversand von Fragebögen, viele Projektaufgaben nach und nach wieder ins Haus zurückgeholt. Damit konnte Know-how, das für das Unternehmen zukünftig noch wichtiger wird, bewusst im Bereich Marketing aufgebaut werden. Nicht zuletzt dadurch ließen sich die Kosten externer Beratungsleistung deutlich reduzieren. Klassische Marktforschung ist aber nur sinnvoll, wenn mit Hilfe der Ergebnisse auch Produkteigenschaften verändert werden können. Durch die extrem langen Produktentwicklungszeiten in Kooperation mit den Automobilherstellern sind Eingriffe oder Anpassungen bei bereits in Entwicklung befindlichen Produkten kaum mehr realisierbar. So ist es durchaus möglich, dass am Ende Produkte mit nur sehr begrenztem Endkundennutzen entstehen.

Um hier den Endkundenmehrwert sicher stellen zu können, wurde der Endkundeninput vom Produktentwicklungsprozess in den Innovationsprozess vorverlegt. Produktkonzepte, die auf Grund von Endkundenbedürfnissen entstanden sind, haben eine deutlich niedrigere Flop-Rate als Konzepte, die von unternehmensinternen Entwicklern erarbeitet wurden.

Die richtigen Kunden finden
Es stellt sich nun die Frage, wie Endkunden sinnvolle neue Produktkonzepte generieren können und wie man derartige Endkunden findet. Das Lead-User-Konzept und das nach der Pyramiding-Methode funktionierende Auswahlverfahren von Prof. von Hippel sind nur bedingt anwendbar. Es sollen Endkunden, Lead-User, außer halb von Organisationen gefunden werden, die heute schon die Bedürfnisse von morgen kennen und zusätzlich über Eigenschaften verfügen, die es ihnen ermöglichen, ihre Bedürfnisse in Form von Produktkonzepten in geregelter Art und Weise an die Webasto-Entwicklungsabteilung weiterzugeben.

Die Methode sollte zudem universell einsetzbar sein, das heißt sie sollte helfen, Lead-User für unterschiedliche Themenstellungen zu finden, ohne dabei jedes Mal das Modell selbst anzupassen oder den gesamten Prozess des Pyramiding-Verfahrens zu durchlaufen. Das Instrument des Fragebogens bietet neben der maschinellen Auswertbarkeit den Vorteil relativ geringer Gesamtprojektkosten. Der Marketing-Aufwand, damit entsprechend viele Endkunden ein Innovations-Webportal besuchen, ist sowohl aus Kostengründen als auch wegen nicht kongruenter Zielgruppen (Web und Webasto) nicht praktikabel.

Kernstück bei der Entwicklung des Fragebogens ist die Überlegung, dass Lead-User über verschiedene unabhängig messbare Charaktereigenschaften und Wissensumfänge verfügen. Das Konzept in Grafik 1 folgt theoretischen Überlegungen und gliedert die Eigenschaften der Lead-User in drei Dimensionen. Der erste Bereich, generelle Expertise in der Produktkategorie, gliedert sich dann wiederum in vier Faktoren, die sich wieder in mehrere Indikatoren unterteilen. Jedem Faktor sind am Ende mehrere Fragen zugeordnet, die von Testpersonen zu beantworten sind.

So wurden im Herbst 2004 an 10 000 nach dem Schlüssel der Pkw-Zulassungsstatistiken und nach den Merkmalen Einkommen, Alter und Geschlecht quotierte Endkunden im südbayerischen Raum Fragebögen per Post versandt, von denen etwa 700 vollständig ausgefüllt zurückkamen. Mit Hilfe statistischer Verfahren ist es möglich, die Signifikanz der Indikatoren zu berechnen und so ein validiertes Modell zu erhalten. Dieses Modell (Customer Esthesia to Innovate, CE2I®) verfügt über eine deutlich verringerte Zahl von Faktoren und Indikatoren sowie über genau definierte Gewichtungen. Entscheidend ist, dass Eigenschaften wie spezielles Produktwissen der Testpersonen nicht qualifizieren, Lead-User zu sein. Vielmehr sind Eigenschaften wie Helfer/Wissenstransfer oder innovationsfördernde Persönlichkeitsmerkmale von entscheidender Bedeutung.

Am Ende des Prozesses stehen 35 Fragen, mit deren Hilfe jedem Endkunden ein Wert zugeordnet wird und so aus einer Gesamtheit ein relatives Ranking entsteht, an dessen Spitze die gesuchten Lead-User stehen. Aus den 700 Antwortbögen, die zuvor verwendet worden waren, um das Modell zu entwickeln, wurden nun die CE2I-Werte für die jeweiligen Endkunden berechnet und so die Teilnehmer für die Workshops bestimmt.

Das Bestimmen der Lead-User ist nur der Beginn eines Prozesses, der schließlich zur vermarktbaren Produktidee führt. Ziel ist es, mit ihrer Hilfe in strukturierten Ideenworkshops neue Produktideen zu generieren, diese zu priorisieren, um am Ende drei bis fünf ausgearbeitete und visualisierte Produktkonzepte vorliegen zu haben. Dabei ist die Struktur der Workshops von entscheidender Bedeutung. Eine beispielhafte Struktur für einen Ideenworkshop ist in Grafik 2 dargestellt.

Von der Integration zur Interaktion
Sicher ist es auf der einen Seite zeitaufwändig und kostenintensiv, mit Endkunden über Produktinnovationen zu diskutieren. Vergleicht man aber auf der anderen Seite die Kosten eines halbtägigen internen Brainstormings mit sechs bis acht Entwicklungsingenieuren mit den Kosten eines Endkunden-Innovationsworkshops, so liegen beide Veranstaltungen in ähnlichem Rahmen. Die Endkunden erhalten außer einer Anfahrtsentschädigung keine Entlohnung, es entstehen lediglich Übernachtungs kosten im Hotel und Kosten für einen externen Moderator.

Gerechtfertigt ist aber sicher die Kritik an dem enormen zeitlichen Aufwand. Für jedes Thema müssen die Teilnehmer neu qualifiziert und eingeladen werden. Hier einen Mechanismus zu schaffen, der diese organisatorischen Probleme beseitigt, wäre von enormem Vorteil. Eine Überlegung könnte der Aufbau einer Community sein. Ein Schritt, der von der Endkundenintegration zur echten Interaktion führen würde. Der Aufbau der Community ist in zwei Phasen geplant. Zu Beginn würden Endkunden, die sich für ein Webasto-Produkt entschieden haben, die Möglichkeit erhalten, Produktverbesserungen in einem Forum zu hinterlegen. Prinzipiell würde es sich hierbei um eine Art „Meckerkasten“ handeln. Ebenso wäre der Aufbau einer Funktionalität, die es Endkunden erlauben würde, eigene Produktideen zu posten und diese auch von anderen Community-Mitgliedern bewerten zu lassen, durchaus denkbar. Eine zweite Stufe könnte das aktive Einstellen von Problemen seitens des Unternehmens sein, die dann von Mitgliedern der Community bearbeitet werden könnten. In keiner Weise ist hier daran gedacht, die gesamte Entwicklungstätigkeit nach außen zu verlagern. Im Zentrum der Überlegungen steht die Möglichkeit, einen zusätzlichen Lösungsraum zu erschließen, der den bestehenden Produktentstehungsprozess um eine Fassette erweitert.

Viele Fragen sind hier noch offen. In Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl von Professor von Hippel am MIT in Boston werden derzeit die Grundlagen zur Umsetzung des Projekts erarbeitet. Fragen sind hier beispielsweise: Wie motiviert man die Endkunden, ihre Ideen in einer Community preiszugeben? Was sind die Erfolgsfaktoren beim Aufbau einer solchen Community? Wem gehören die Ideen, und wie kann ich als Unternehmen die Vorschläge unter rechtlichen Gesichtspunkten nutzen (Intellectual Property). Wie kann ich ausreichenden Traffic beispielsweise auf einer Webseite generieren? Wie sieht eine benutzerfreundliche Oberfläche aus?

Einerseits scheint der Entwicklungsbedarf enorm. Andererseits gibt es mittlerweile vor allem – wen wundert es – in Amerika einige Beispiele von Unternehmen, die sich genau diese Mechanismen der Communities sehr erfolgreich zu Nutze gemacht haben. Nun gilt es, von diesen zu lernen, die Mechanismen der Communities zu transferieren und daraus einen Nutzen auch für die old „oily“ economy zu ziehen.

Alexander Lang ist Manager Strategy, Corporate Marketing der Webasto AG in Stockdorf.

eingestellt am 25. Mai 2006