Herr Baumann, womit stellt man heute Kunden zufrieden?
STEFAN BAUMANN: „Zufriedenheit“ bezieht sich ja in erster Linie auf artikulierbare Bedürfnisse. Dem Konsumenten geht es aber immer mehr um seine latenten Sehnsüchte, Konflikte und Ängste. Deshalb müssen wir im Marketing überraschen, irritieren und zur Verhaltensänderung motivieren. Wir arbeiten an der Unzufriedenheit. Viele Konsumenten befinden sich heute im „Werden“-Modus, das heißt, sie wollen sich entwickeln. Die Aufgabe von Marken besteht heute darin, ein Ökosystem von Produkt-Services anzubieten, die im Leben der Konsumenten eine sinnerfüllte Rolle spielen. Im 21. Jahrhundert liegt das wahre Kapital der Marken vor allem darin, die Beziehungen zwischen Menschen zu intensivieren, um den kulturellen Veränderungen zu folgen und sie voranzubringen.
Welches sind die neuen, zentralen Rahmenbedingungen im digitalen Zeitalter, die im Marketing berücksichtigt werden müssen?
BAUMANN: Die fortschreitende Digitalisierung de-materialisiert nicht nur Objekte des Alltags, sondern auch das Verhältnis der Konsumenten zu Marken. Menschen werden zu (sozialen) Medien in der Netzwerkökonomie und dadurch ändern sich die Marketingtechniken enorm. Das traditionelle B-to-C-Marketing weicht heute einer Business-to-Network-Kommunikation, in der vor allem Beziehungen produziert werden, zumeist über Content-Marketing und Service-Design-Strategien. In einem derart veränderten Kommunikations-Umfeld geht es darum, die Beziehungen und Bedeutungen innerhalb einer Marken-Community zu intensivieren und die Konsumenten als Teil des aktiven Markendiskurses zu betrachten. Wir nennen diese neue Anforderung an das Marketing „Social Design“.
Reichen die Positionierungsstrategien von heute noch für diese Welt aus?
BAUMANN: Klassische Positionierungen sind leider sehr statisch, eindimensional und schwer in Markenverhalten zu übersetzen. Wir teilen den Gedanken von Simon Sinek, der besagt, dass Kunden einen nicht für das kaufen, was man produziert, sie interessieren sich vielmehr für die Frage, warum man es produziert. Woher aber kommt das Warum? Jedes Warum braucht einen kulturellen Konflikt, den eine Marke verspricht, zu lösen. Marken entwickeln ihre Anziehungskraft aus den Spannungsfeldern, die sie bespielen. Wenn eine Marke auf der einen Seite für Individualität steht und auf der anderen Seite für eine fast sozialistische Gemeinschaft, für „selbst bauen und aufstellen“ und gleichzeitig für „fröhlich, bunt und leicht“, dann hat sie, wie Ikea, mehrere Energieströme zugleich angezapft. Aus ihnen kreiert sie ihre Geschichten und schreibt sich dabei fest in die Kultur des Wohnens ein. Nur dann besitzt eine Marke ein „Warum“. Marken, die nur aus einer Ansammlung von wünschenswerten Attributen und Werten bestehen, haben keine kulturelle Bedeutung. Sie bringen uns nirgendwohin.
Mit wem haben es Markenartikler heute zu tun? Wie sieht der neue Verbrauchertypus aus?
BAUMANN: Im modernen Konsum beobachten wir eine Verschiebung der Nachfragekriterien. Nicht mehr das Prinzip „schneller, schöner, besser“ dominiert, sondern Faktoren wie Relevanz und Originalität. Das Zeitalter des Perfekten ist vorbei. Stattdessen werden Erinnerungen, Geschichten, Handwerk und menschliche Qualitäten geschätzt. Es geht um Identitätskonsum. Neben der Frage nach dem Sinn rückt die Frage nach der eigenen Identität für die heutige Verbrauchergeneration in den Mittelpunkt. Menschen können heute alles sein und ständig die Identität wechseln. In ihren Konsumbiographien versuchen sich Konsumenten heute an einem narrativen Protokoll ihrer Lebensereignisse. Sie kaufen, wer sie sein wollen und wer sie gewesen sind. Deshalb müssen Produkte und Marken heute selber menschliche Qualitäten zeigen, eigene Brüche mitbringen, sich entwickeln und verändern.
Wie leicht fällt es Unternehmen, die Denkrichtung zu wechseln?
BAUMANN: „Vom Konsumenten aus zu denken“ ist mittlerweile zur Standard-Devise bei den Markenartiklern geworden. Vom Konsumenten aus zu handeln aber ist eine andere Sache. Innovationsstrategien zu denken und kulturelle Chancenfelder systematisch zu entdecken und mit Marken, neuen Produkten und Services zu einem neuen Markt zu machen, ist eher die Ausnahme. Wir brauchen im Unternehmen einen „chief culture officer“, wie der Anthropologe Grant McCracken in seinem gleichnamigen Buch formulierte.
Wie können sich Unternehmen weiterentwickeln?
BAUMANN: Die größte Barriere für marktorientiertes, innovatives Denken und Handeln im Unternehmen ist immer noch der große Abstand zum realen Konsumenten und seiner Lebenswelt. Bei Sturm und Drang setzen wir deshalb auf „Konsumenten-Botschaften“ im Unternehmen. Das sind permanente, von uns betreute Marken-Communitys mit wirklichen Konsumenten, die als „externe Mitarbeiter“ Insights, Ideen und Bewertungen liefern können, und zwar von einer auf die andere Woche und im direkten Kontakt mit dem Marketing und dem Innovations-Management. Wenn es auf diese Weise gelingt, den Markt in das Unternehmen zu holen und die dadurch gewonnen Insights, Foresights und neuen Konzepte systematisch zu managen, dann wäre der Business-Intelligence nachhaltig geholfen.
Welchen Beitrag kann die Trendforschung leisten?
BAUMANN: Trendforschung als kulturelle Strömungsanalyse kann dabei unterstützen, die Bewegungen in den Märkten vorauszudenken. Wo entstehen neue Nachfragen und wie lassen sie sich mit internationalen Industrietrends gedanklich kombinieren? In Trend-Szenarien bestimmen wir den Kontextwandel, entdecken neue Innovationsfelder oder justieren Markenstrategien. Trendforschung ist kulturelle Strategiearbeit und leistet einen wichtigen Beitrag, wenn es darum geht, über die Industriegrenzen hinaus den Wandel der Märkte mitzudenken.
Die Fragen stellte Peter Hanser.