Von Larissa Schwedes, Gioia Forster und Johannes Neudecker, dpa
Der Kleiderschrank frisch sortiert, die ungeliebten Stücke in Säcken verstaut und in den Fächern wieder Platz für Neues: Weil viele Menschen in Deutschland die Corona-Zwangspause für ausgiebiges Ausmisten nutzten, gelangen Textil-Recycler an ihre Grenzen. Doch das ist nicht das einzige Problem. Martin Wittmann, der im Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (bvse) für die Branche spricht, wählt drastische Worte: „Das Textil-Recycling steht vor dem Kollaps.“
Die Zahlen, die der Verband in dieser Woche als Teil einer Alttextilstudie vorstellte, bilden einen Trend ab, der anhält: Von 2013 bis 2018 hat sich die Sammelmenge in Deutschland um 300.000 Tonnen auf 1,3 Millionen Tonnen Altkleider erhöht. Pro Kopf sammelten die Menschen zuletzt 15,3 Kilo Klamotten im Jahr.
DRK mit Altkleiderspenden überhäuft
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) ist in den ersten Wochen der Pandemie mit Altkleider-Spenden geradezu überhäuft worden. Ein Großteil der Bevölkerung habe sicherlich die Zeit zu Hause zum Frühjahrsputz genutzt, sagte eine DRK-Sprecherin. „Wenngleich wir uns über jede Kleiderspende freuen, führt die hohe Spendenbereitschaft zu einer starken Belastung des Systems.“ Laut dem Dachverband Fairwertung, dem rund 130 gemeinnützige Organisationen angehören, wurden in manchen Landkreisen bis zu 35 Prozent mehr Kleidung in Container eingeworfen als üblich.
Firmen, die das Sammeln, Sortieren und Verwerten alter Kleidung zu ihrem Geschäft gemacht haben, könnte das freuen – denkt man. Doch so ist es nicht. Der Secondhand-Verkauf wurde dadurch ausgebremst, dass Kleiderkammern und Geschäfte für lange Zeit schließen mussten – erst Ende April durften die ersten unter strengen Auflagen wieder öffnen. Es sei davon auszugehen, dass die Einnahmen aus den Altkleidern für längere Zeit deutlich geringer ausfallen werden, schätzt das DRK.
Viele Kleider müssen verbrannt werden
Und wie in vielen anderen Bereichen gilt auch hier: Quantität ist nicht gleich Qualität. „Kleidung aus billiger Chemiefaser oder gar Fasermixen eignen sich weder als Second-Hand-Ware noch für die Weiterverwendung“, sagt Wittmann. Minderwertige Produkte – oft gefertigt in Länden mit niedrigen Löhnen – taugen im Recycling teilweise nicht einmal mehr für Putzlappen. So hat sich der Anteil der Altkleider, die nur noch verbrannt werden können, auf fast ein Achtel erhöht.
Zuletzt beklagte der bvse in den vergangenen Wochen mehrfach, in den Containern fände sich zunehmend auch anderer Müll oder Säcke würden einfach neben überfüllten Containern abgestellt. Das macht nicht nur das Sortieren aufwendiger und schwieriger, sondern abgegebene Kleidung womöglich völlig wertlos. Verträge mit Verwerter-Firmen, die Kleidung zu Putz- oder Füllmaterial verarbeiten, seien gekürzt oder gekündigt worden, berichtet das DRK. Die Preise für Altkleider sanken mitunter um bis zu 80 Prozent.
Kleidersäcke stapeln sich bin unter die Decke
In Lagerhallen, rollenden Lastwagen und überall, wo Verwertungsfirmen Platz finden, stapeln sich daher die Kleidersäcke zurzeit fast bis zur Decke. Corona, auch in anderen Branchen als „Brennglas“ für Missstände bezeichnet, hat auch in der Welt der Textilien gezeigt: Es hakt an allen Ecken und Enden.
Über Verwertungsunternehmen wird ein Teil der Kleidung nach Afrika, West- und Osteuropa, in den Nahen Osten und nach Asien exportiert – zumindest in normalen Zeiten. Laut der UN-Datenbank Comtrade exportierte Deutschland 2019 Altkleider im Wert von 368 Millionen US-Dollar. „Die Sammler verkaufen die Kleidung weiter an gewerbliche Sortierbetriebe“, erklärt der Geschäftsführer des Dachverbands Fairwertung, Thomas Ahlmann. Geht man von einem durchschnittlichen Altkleiderbeutel aus, sei gut die Hälfte darin Secondhand-fähig. Großhändler aus aller Welt kauften bei den Sortierbetrieben Ware ein – und so könnte eine Jeans dann auch auf dem Markt in Nairobi landen.
Weiterverkauf in Afrika sorgt für Probleme
In der kenianischen Hauptstadt kaufen Händler die Kleidung zu Großhandelspreisen auf dem Gikomba-Markt und verkaufen sie auf kleineren Märkten weiter. So auch Frederick Asava. „Für mich ist es ein gutes Geschäft“, sagt der 24-Jährige, der auf dem Toi-Markt am Rande des Slums Kibera einen Stand hat. Feinsäuberlich sind darauf Hemden, Pullover und Jeans gestapelt – ein begehrtes Gut. „Die Kleider aus dem Ausland sind günstiger als unsere.“
Doch daraus entsteht vor Ort ein weiteres Problem. Der Import von Secondhand-Kleidung aus Europa, den USA und China bringt zwar Händlern wie Asava Geld ein, doch Textilherstellern gibt es keine Chance. „Es tötet die örtliche Industrie“, sagt Christophe Bazivamo, der stellvertretende Generalsekretär der East African Community (EAC) für die Produktionssektoren. Einst habe es in vielen ostafrikanischen Ländern florierende Textilproduktion gegeben – doch weil die Märkte mit Altkleidern aus dem Ausland überschwemmt wurden, sei die Produktion gesunken. „Jobs entlang der ganzen Wertschöpfungskette sind verloren gegangen.“ Daher hatten die Mitgliedstaaten der EAC eigentlich ein Verbot des Imports von Altkleidern beschlossen, bislang hat das aber nur Ruanda umgesetzt.
Wegen des stark eingeschränkten Flugverkehrs ist aktuell der Import jeglicher Güter ohnehin erschwert, Lieferketten liegen brach, Grenzen sind dicht. Kenia hat vorübergehend sogar verboten, Secondhand-Kleider zu importieren – aus Angst, Altkleider könnten neue Corona-Fälle einschleppen. Die Textilindustrie pocht darauf, dass es bei dem Verbot bleibt. Doch Verkäufer Asava hat Angst: „Das wäre ganz schlimm für mich.“ Und für Exportländer wie Deutschland oder die USA würde ein wichtiger Markt wegbrechen.
Appell zu nachhaltigerem Konsum der Kunden
Die Textil-Recycler in Deutschland haben kaum noch Hoffnung, dass sich die Missstände von allein wieder erledigen. Die Textilbranche müsse bei ihren Produkten den späteren Warenkreislauf mitbedenken und nicht auf „Fast Fashion“ um jeden Preis setzen, fordert der bvse. Die umweltpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, Judith Skudelny, fordert die Umweltministerin auf, sich dem Problem anzunehmen. „Notwendig sind die Förderung innovativer Technologien in der Recyclingwirtschaft, ein transparenteres Sammelsystem und ein Werben für nachhaltigeren Konsum beim Kunden, um die Menge, die nicht dem Recyclingkreislauf hinzugeführt wird, zu verringern.“
Wittmann vom bvse wünscht sich Kampagnen, die erklären, wie man bewusst und nachhaltig mit Textilien umgehen kann. Vielleicht ein Tropfen auf den heißen Stein, vielleicht aber besser als nichts. „Letztendlich versuchen alle, sich durch diese Krise zu retten und hoffen, dass es irgendwann wieder aufwärts geht.“