Der gelbe Underdog mit dem Geist

Alle Welt redet von TikTok. Doch was ist eigentlich aus Snapchat geworden? Über eine unterschätzte Social-Messaging-App, die bei der jungen Zielgruppe nach wie vor schwer angesagt ist.
Obwohl AR-Filter zum Standard geworden sind, macht es (noch) niemand so gut wie Snapchat. (© Aus der AR-Ausstellung „Vogue x Snapchat“ mit Designs von Balenciaga, Dior, Gucci, Kenneth Ize, Richard Quinn, Stella McCartney und Versace.)

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absatzwirtschaft · Der gelbe Underdog mit dem Geist

Der Erfinder der Social-Media-Story ist Snapchat. Über die schiere Marktmacht TikToks ist das innovative Start-up Snap aus dem kalifornischen Venice für die deutsche Medienöffentlichkeit fast schon in Vergessenheit geraten. Dafür zanken einfach zu wenig Milliardäre auf dem Netzwerk über Meinungsfreiheit. Und dazu lässt sich Snapchat dann auch nicht so einfach kaufen. Mehrmals schlug das Unternehmen ein Angebot Facebooks aus, die App für Milliardensummen zu übernehmen.

Unbeeindruckt von den Abwerbeversuchen innoviert Snapchat weiter. Zu den Entwicklungen gehören AR-Commerce-Filter, die die Lidar-Sensoren des iPhones nutzen, Spectacles und selbstfliegende Drohnen sowie ihr Real-Life-Metaverse-Ansatz, den sie aber nicht so nennen wollen. Werfen wir in diesem Artikel einen Blick auf den gelben Underdog mit dem weißen Geist im Logo.

Trotz Datenskandalen und einer übermächtigen Konkurrenz war Snapchat nie weg. Ganz im Gegenteil: Laut aktueller Zahlen, die das Unternehmen Snap für das erste Quartal 2022 herausgegeben hat, wächst die App schneller als Facebook oder Twitter. Mit 332 Millionen täglichen Nutzer*innen ist Snap­chat sogar etwa ein Drittel größer als das Netzwerk mit dem blauen Vögelchen. Die Corona-Pandemie bescherte der Social-­Mes­sa­ging-App mit Story regen Zuwachs. Wer heute die Jugend errei­chen möchte, kommt um Snapchat nicht herum: Fast zwei Drittel der Nutzer*innen sind 24 Jahre oder jünger und genauso viele sind exklusiv bei Snapchat. Mehr Jugend auf einem Haufen gibt es nicht. Etwa 13 Millionen Nutzer*innen gibt es in ­Deutschland.

AR-Filter als Spaß für die ganze Familie

Bekannt wurde das Netzwerk mit dem Geist vor allem durch seine neuartige Chatfunktion, bei der Nachrichten zeitnah gelöscht wurden. Eine Funktion, die später dazukam, sorgte dann dafür, dass es zum Spaß für die ganze Familie wurde: Augmented-Reality-Filter. Schon damals ein Exportschlager der App: das Anwenden von Filtern auf Snaps – so heißen die zehnsekündigen Videos – und das Abspeichern auf dem Gerät, um den Clip in einer anderen App zu verwenden. Und obwohl Filter in der Zwischen­zeit zu einem Standard geworden sind, macht es noch immer keiner so gut wie das kalifornische Start-up.

Kein Unternehmen bietet so viele Filter auf diesem Niveau an, kein Unternehmen hat eine so offene Plattform für Entwickler, um Filter hochzuladen und zu bearbeiten. Auf Snap AR, wie die eigene Entwicklerplattform heißt, sollen nach eigenen Angaben mehr als 250.000 Creator 2,5 Millionen Snapchat-Objektive erstellt haben, die fünf Billionen Mal angesehen worden sein sollen. Mit Lens Studio und Lens Cloud stehen professionelle Entwicklertools zur Verfügung, über die auf APIs zugegriffen werden kann, die Drittanbieter-Informationen wie Wetterdaten, Tageshoroskope oder Live-Sportergebnisse liefern. Die Filter stehen dabei nicht nur auf dem Smart­phone, sondern auch auf den Spectacles zur Verfügung, Snaps Consumer-AR-Brille.

Auf dem diesjährigen Partner Summit von Snap kündigte das AR-Unternehmen die neue App-Funktion Dress-up an. Mit diesem Feature wird es möglich, virtuelle Schuh- und Kleidungsanproben anzubieten. Nicht nur in Snapchat selbst, sondern auch über eine API als Integration in der eigenen Webseite oder App. Dass AR-Commerce durchaus Nutzer*innen findet, sollen Snaps eigene Zahlen zeigen: Über 250 Millionen Snapchat-Nutzer*innen nutzten die AR-Shopping-Linsen bisher über fünf Milliarden Mal.

Snap-CEO hält nichts von Zuckerbergs Vision

Und wie stellt sich Snapchat im Bezug auf das Metaverse auf, dieses mysteriöse Internet der Zukunft, das aus Experiences statt aus Webseiten bestehen soll? Evan Spiegel, CEO von Snap, bezeichnete das Metaverse auf dem Partner Summit als zu dysto­pisch und insbesondere Mark Zuckerbergs Vision als zu hypothe­tisch. Menschen liebten die reale Welt und wollten lieber mit ihren Freund*innen zusammen sein. Was für Niantic, den Entwick­ler von Pokémon Go, das „real-world metaverse“ ist, könnte auch für Snapchat ein Ansatz sein. Schon jetzt lassen sich über die Maps-Funktion von Snapchat nicht nur Freund*innen auf der Map lokalisieren. Öffentliche AR-Experiences können ange­zeigt und, wenn man wirklich vor Ort ist, auch erlebt werden. So gibt es in London bereits eine Straße, die fast vollständig augmentiert ist. Die Inhalte werden dabei von den Nutzer*innen selbst zur Verfügung gestellt.

Noch ist Snap an das Smart­phone gebunden. Doch Spiegel arbeitet seit Jahren daran, ein Metaverse-Zugangsgerät für die Nase zu bauen. Erst kürzlich stellte das Unternehmen die neueste Version seiner Augmented-Reality-Brille vor. Auch wenn der Nasen­computer noch mit Kinderkrankheiten zu kämpfen hat, rückt die augmentierte Zukunft mit Snapchat immer näher.

(tr, Jahrgang 1981) ist freier Journalist aus Köln. Als Kind der 90er wuchs er mit Ace of Base, Hero Quest und Game Boy auf und bastelte früh Webseiten für andere, nahm Podcasts auf und sagte das Smartphone-Zeitalter voraus, während er über WAP auf dem Accompli 007 E-Mails verschickte. Heute berichtet der Vater einer Teenager-Tochter über Tech- und New-Work-Trends in Text und Ton. Aktuelle Podcasts: "Future Future" und "Der Metaverse Podcast".