„Neuromarketing ist nicht immer abgefahren oder abstrakt, sondern an vielen Punkten ein recht normaler Bestandteil nutzerzentrierter Gestaltung“, sagt Daniel Waschlewski, Digital Manager und Neuromarketing-Spezialist bei Jwied. Die Mönchengladbacher Digitalagentur entwickelt Websites, Apps sowie E-Commerce-Lösungen und berücksichtigt dafür auch Erkenntnisse aus der Hirnforschung.
Neuromarketing ist nach Einschätzung von Waschlewski im Internet besonders wichtig, da zum Beispiel Website-Betreiber dort nur ungefähr drei Sekunden Zeit haben, um zu überzeugen. Doch Texte lassen sich in dieser kurzen Zeit im Gehirn nicht verarbeiten. „Es ist der erste Eindruck, der zählt. Ein bisschen so wie beim Date“, sagt Waschlewski. Da Neuromarketing wirkt, ohne dass es die Nutzer*innen bemerken, zielen die auf einer Website eingesetzten Elemente auch auf das Unterbewusstsein und die Relevanz. Im UX-Design betrifft dies konkret Farben, Formen, Typografie, Tonalität und Bildsprache.
KiNd-Website: Farben und Formen schaffen Wohlfühlatmosphäre
Beim Website-Relaunch eines der modernsten Kinderwunschzentren Deutschlands, des Kinderwunschzentrums Niederrhein (KiNd), war Neuromarketing ein wichtiger Bestandteil im UX-Design-Prozess von Jwied. Erste Analysen zeigten, dass das Thema Kinderwunsch hauptsächlich über Mobile Devices gesucht wird und dass sich Frauen und Männer dafür gleichermaßen interessieren. Die Herausforderung bestand nun darin, auf recht kleiner Fläche (Mobile First Design) eine sensible, hochemotionale gestalterische Basis zu entwickeln, die Frauen und Männer gleichermaßen anspricht. Entsprechend setzt die Website auf eine emotionale Bilderwelt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sie zeigt professionelle, empathische Ärzt*innen und kommuniziert den Kinderwunsch über eine bildliche, metaphorische Ebene.
Als Farbkonzept griff Jwied auf bewährte Muster zurück, schwächte diese aber in einem Verlaufsmuster ab. Grundsätzlich ordnet man Farben verschiedene Funktionen zu: Blau schafft Vertrauen, gibt Sicherheit und schafft Klarheit. Grün ist sehr beruhigend, natürlich und gibt Hoffnung. Gelb spendet Energie, Wärme und fördert den Optimismus. Dieses Farbenset dominiert den Auftritt der Website. Nicht überladen, sondern harmonisch und zart. Organische Formen runden den natürlichen und emotionalen Auftritt ab und schaffen dadurch ab der ersten Sekunde eine vertraute Wohlfühlatmosphäre.
Diese Gestaltung hinterlässt bei Besucher*innen offensichtlich einen starken emotionalen Eindruck: Insbesondere durch die Berücksichtigung solcher Neuromarketing-Effekte konnte die Absprungrate auf der Startseite um 60 Prozent reduziert werden. Besucher*innen verweilen nun durchschnittlich 20 Prozent länger auf der Online-Präsenz.
Wenn Influencer*innen Heuristiken auslösen
Auch in den sozialen Medien werden Aktionen oft unbewusst von Gefühlstriggern ausgelöst. Cristiano Ronaldo gilt zum Beispiel als der einflussreichste Fußballer auf Instagram. Laut aktuellen Analysen von Nielsen Gracenote hat Ronaldo in den Monaten vor der WM in Katar die Anzahl seiner Instagram-Follower*innen gegenüber Anfang 2022 um 48 Prozent gesteigert. Rund 518 Millionen Menschen folgen dem Superstar mittlerweile auf der Social-Media-Plattform. Dass er dort so extrem beliebt ist, liegt in erster Linie an seinen sportlichen Erfolgen, seinem fußballerischen Können und einer cleveren Selbstvermarktung.
Einige Erfolgsfaktoren seiner großen Social-Media-Beliebtheit lassen sich auch auf Neuromarketing-Mechanismen zurückführen. „Besonders erfolgreiche Influencer*innen bieten auf Instagram eine große Nahbarkeit und zeigen ein gewisses Ideal“, sagt Peter Merdian, Neuromarketing-Experte bei der Digitalagentur Diginea. Bei Ronaldo kommt diesbezüglich einiges zusammen: Der gut aussehende Superstar zeigt auf Instagram gern seinen durchtrainierten Körper und wirbt für bekannte Marken; aber er erklärt auch, wie hart er trainiert, postet Bilder von seiner Familie oder gibt Einblicke in private Momente. „Für die Follower*innen öffnet Social Media die Tür zu einer Gesellschaft, zu der sie im realen Leben keinen Zugang haben“, sagt Merdian.
Wer in der Kreisliga auf Bolzplätzen unterwegs ist, schaut Champions League, weil er ein Ideal anstrebt. Und wer den kickenden Weltstars auf Instagram folgt, kommt seinem Ideal ein Stück näher – zumindest virtuell. „Ronaldo verkauft Erlebnisse. Nicht gegen Geld, sondern gegen Aufmerksamkeit“, sagt Merdian. Ein Mechanismus, den sich insbesondere große Marken ebenfalls zunutze machen, indem sie darauf abzielen, durch emotionale Erlebnisse bei Nutzer*innen einen positiven Eindruck zu hinterlassen. „Unser Gehirn möchte schnelle, gute Entscheidungen treffen. Und das macht es am einfachsten unbewusst, quasi im Autopiloten, indem es mit Heuristiken arbeitet“, erläutert Merdian. Sieht man in einer Klinik einen Mann in weißem Kittel, ordnet man ihn beispielsweise automatisch als Arzt ein. „Heuristiken sind evolutionär effizienter, als ständig hart nachzudenken“, so der Experte.
Im Falle der Social-Media-Aktivitäten von CR7 haben die Menschen die Chance, automatisch Teil eines Erlebnisses zu werden, zu dem sie sonst keinen Zugang haben. Wenn der eigene Alltag wenig inspirierend ist, möchte man sich von seinen Idolen inspirieren lassen. Und wenn diese dann – so wie CR7 – auch eigene Produktserien verkaufen, fühlt man sich dieser Welt noch ein Stück näher, sobald man diese Produkte erwirbt. Das gute Gefühl überträgt sich so vom Social-Media-Post eines Cristiano Ronaldo auf das eigene reale Leben. „Influencer*innen, die ein Thema wirklich authentisch besetzen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, bestimmte Neuromarketing-Prozesse in Gang zu setzen“, sagt Merdian.
TV-Kampagne liefert messbare Emotionen
Auch die Wirkung von TV-Spots hängt eng mit den ausgelösten Emotionen zusammen: Um ihre Marke neu zu positionieren, setzt zum Beispiel die Privatbrauerei Egger im niederösterreichischen St. Pölten auf einen völlig neuen Werbeauftritt, der viele Emotionen antriggert: Der TV-Spot nutzt sehr starke Bilder, wirkt aktivierend. Um herauszufinden, wie das bei der Zielgruppe ankommt, haben die Agentur Mediaplus und das Forschungsinstitut September die emotionale Wirkung an Proband*innen gemessen. Die Messdaten flossen in die Emotion Engine ein, eine Datenbank, die hilft, die Wirkung von Kreation zu verstehen, zu benchmarken und mithilfe von KI zu optimieren.
In Einzelmessungen wurde die Wirkung des Spots an verkabelten Proband*innen sekündlich erfasst. Es wurde genau analysiert, wann zum Beispiel Sympathie, Attraktion, Relevanz und Reflexion ansteigen und an welchen Stellen die Kurven abflachen, und warum. Auch wurde getestet, welche Emotionen die Kampagne bei unterschiedlichen Zielgruppen erzielt. Es zeigte sich: Die eingesetzten Bilderwelten kommunizieren Leichtigkeit, Lebensfreude und Mut, über den eigenen Schatten zu springen. Die Tonspur erwies sich als stimmig und zusammen mit der Bildwelt motivierend, authentisch und glaubhaft. Gleichzeitig lieferte die Analyse auch Erkenntnisse und Empfehlungen für mögliche Optimierungen: Die Bildsequenz, die einen einzelnen jungen Mann mit Bier auf dem Hochhausdach zeigt, weckt zum Beispiel Assoziationen von Gefahr und Leichtsinn und eine im Spot enthaltene Bullriding-Sequenz wird oft als zu amerikanisch empfunden. Einige Szenen offenbarten auch Kürz-Potenzial zugunsten derer, die stark performen. Ein Algorithmus berechnete aus den Messdaten sieben marketingrelevante KPI sowie als übergreifende Kennzahl den sogenannten Emotion Loading Index (ELI). Mit seiner Kampagne erreichte Egger einen starken ELI von 75,7. Zum Vergleich: Die ebenfalls untersuchten Wettbewerber erreichten nur Werte zwischen 48,7 und 73,4.
Die Beispiele zeigen, dass Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie für das Marketing eine große Rolle spielen – und sich dank der bereits gesammelten Erfahrungen und neuer Technologien immer gezielter einsetzen lassen. Neuromarketing-Effekte zu kennen und umzusetzen, ist allein zwar kein Garant für den Werbeerfolg, aber es kann ein kleiner Hebel mit großer Wirkung sein.