Von Gastautor Peter Brandl
Nach 43 Jahren gefühlter Extrawürste fällt es leicht, den Briten ein hämisches „So what?“ hinterherzuwerfen. Und schon ist die europäische Kopie britischer als das Original: in fast allem nur das Schlechte sehen und am Rest kein gutes Haar lassen. Das klingt nach verletztem Ego und nicht nach Augenmaß.
Camerons demokratische Idee
Beginnen wir mit dem Votum selbst, das mehr ist als ein Ergebnis nach Stimmen pro und contra. Es eine persönliche Bewertung, die Äußerung eines Bauchgefühls. Und genau das zählt – im wahrsten Sinn des Wortes. Während die selbsternannten Weisen zetern, wie irrational das sei, spielen sie weiter die alte Leier: Sie nehmen die Insel nicht ernst und trauen ihren Bewohnern nicht zu, erwachsene Entscheidungen zu treffen. Camerons Idee mag strategisch unklug gewesen sein, war aber demokratisch richtig. Jetzt hat das Volk gesprochen. Ob das in den Kram des Festlands passt oder nicht.
Sicherlich haben sich nicht alle Wähler tief ins Thema vergraben, sondern eher auf ihr Bauchgefühl gehört. Realistisch betrachtet, kann man ohnehin nie alle Fakten kennen und neutral bewerten. Selbst die Wissenschaftler blicken kaum durch. Zehn Ökonomen, elf Meinungen, und am Ende gewinnt der, der am wenigsten Unrecht hat. Doch auch, wenn Rationalität unmöglich ist, darf und muss entschieden werden, damit die Umstände es nicht tun. Und am Ende kommt uns doch wieder nur die eigene Sichtweise vernünftig vor.
„Ja“ und „Nein“ zum Brexit sind Bauchentscheidungen
Dabei bleibt ungeklärt, was rational eigentlich bedeutet. Darüber, was vernünftig ist, streiten die Philosophen seit Jahrtausenden. In Wirklichkeit fällen Menschen 70-99 Prozent ihrer Entscheidungen emotional und merken es nicht einmal. Denn diese Gefühlsäußerungen werden erst im Anschluss rational legitimiert. Sowohl das „Ja“ als auch das „Nein“ zum Brexit sind Bauchentscheidungen. Der Bauch hierbei liegt in Wahrheit im Zwischenhirn, das auch die Emotionen beherbergt. Damit wir anschließend mit einem Alles-im-Griff-Gefühl ruhig schlafen können, erfinden wir Gründe, warum unsere Wahl hochintelligent gewesen ist. Statt Gefühle zuzugeben, beauftragen wir das Großhirn mit einem eleganten Etikettenschwindel, der Kontrolle verheißt, wo keine ist. Die Forschung nennt das sekundäre Rationalisierung.
Ruhe bewahren
Fragt sich, was wir von den Briten lernen können – etwa, wenn wir nach dem Bruch unsere Geschäfte in England neu strukturieren müssen. Zuerst einmal: Ruhe bewahren und belastbare Fakten sammeln. Dann nachdenken, um dem Bauch eine gute Basis für seine Entscheidung zu liefern. Und dann loslassen. Denn die Intuition hat oft Recht, weil sie im Hintergrund unbewusst all das berücksichtigt, dass wir erlebt und womit wir den Kopf vorher gefüttert haben. Und weil der Bauch nicht grübelt, ist er schlauer als das Hirn. Vertrauen wir ihm einfach.
Zum Autor: Peter Brandl ist Unternehmer, Managementtrainer, Berufspilot und Fluglehrer und gilt als einer der führenden Kommunikationsexperten im deutschsprachigen Raum. Er berät und trainiert Unternehmen in den Bereichen Kommunikation, Verhandlungstechniken und Konfliktmanagement. Dabei kombiniert er neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Neurobiologie mit Erkenntnissen aus der Luftfahrt und überträgt dieses Wissen auf alltägliche Situationen.