Das wahre Kernproblem von Siemens

Siemens hat einen neuen Chef.So löste Joe Kaeser am 1. August dieses Jahres Peter Löscher als CEO von Siemens ab. In seiner Antrittsrede brachte der neue CEO das wahre Problem von Siemens auf den Punkt: „Sie haben in letzter Zeit viel über Siemens gehört, gesehen und vor allem geschrieben. Und wir haben Ihnen dazu reichlich viel Stoff gegeben: Geschrieben und geredet wird von Chaostagen, von Pleiten, Pech und Pannen, von Menschlichem und Unmenschlichem und vielem mehr. Aber das ist nicht Siemens und das ist nicht, wofür es steht. Vor allem nicht, wofür es stehen sollte!“

Genau das ist das Kernproblem von Siemens. Wofür steht die Marke und das Unternehmen Siemens? So umfasst heute Siemens in seinen vier Hauptgeschäftsfeldern nicht weniger als 15 Divisionen und 60 Geschäftseinheiten. Das macht es unendlich schwer das Unternehmen und die Marke zu definieren und zu positionieren. Mehr noch: Es macht es zusätzlich unendlich schwer, eine Richtung für die Zukunft zu definieren.

So nannte Kaeser in seiner Rede als Lösung für das Problem auch die üblichen Verdächtigen: „Siemens muss bei Siemens über allem stehen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg! Nicht die Strategie ist es, die den Unterschied macht, sondern die Kultur eines Unternehmens, seine Werte und wofür es steht! Es geht darum, die Tugenden und Werte der Siemensianer jeden Tag zu leben. Die Menschen verbinden mit unserem Unternehmen zu Recht Zuverlässigkeit und Stetigkeit, Fairness und Integrität, Fleiß und Einsatz – und ein seit jeher untrügliches Gespür für Innovationen und Qualität. … Besonders deshalb müssen wir Perspektiven über 2014 hinaus schaffen! Und die beste Perspektive ist Wachstum – kontrolliertes, fokussiertes und umsetzbares, Wert schaffendes Wachstum. Und dieses Wachstum muss von den Werten und Kompetenzen getrieben sein, die Siemens weltberühmt gemacht haben und wofür Siemens steht: Kundennähe, Innovation, Ingenieurskunst, Gespür für Qualität und Zuverlässigkeit und solide Finanzen.“

Kultur statt Strategie

Nur werden Kultur, Werte und Tugenden alleine reichen? Als Jack Welch 1981 CEO von General Electric wurde, lautete sein Credo, dass nur jene Geschäftsbereiche erhalten bleiben, die entweder global Nr. 1 oder Nr. 2 sind bzw. glaubwürdig darlegen können, dass sie Nr. 1 oder Nr. 2 werden. Jack Welch hatte eine klare Strategie, um GE wieder auf Erfolgskurs zu bringen.
So meinte auch Peter Löscher, kurz nachdem er im Juli 2007 CEO von Siemens geworden war: „Alles in allem muss Siemens schneller, stärker fokussiert und weniger komplex werden.“ Nur Fokussierung alleine reicht in vielen Fällen nicht, um wieder auf Wachstumskurs zu kommen. So ist auch Siemens meilenweit von den 100 Milliarden Euro Umsatz entfernt, die Löscher einst zu seinem Ziel erklärte. (So betrug der Jahresumsatz im Geschäftsjahr 2012 „nur“ 78,296 Milliarden Euro.)

General Electric versus Siemens

Aber auch bei GE dürfte die Luft draußen sein. Das spiegelt sich nicht nur in den Aktienkursen, sondern auch in den Markenwerten wider. So hat der Aktienkurs von Siemens seit dem Amtsantritt von Löscher mehr als 20 Prozent verloren, der von GE kursmäßig im selben Zeitraum sogar mehr als 30 Prozent. Aber sehen wir uns einmal die Markenwerte von GE und Siemens (Quelle Interbrand) seit 2007 in Milliarden US-Dollar einmal näher an:

200751,577,74

GE Siemens
2008 53,09 7,94
2009 47,78 7,31
2010 42,81 7,32
2011 42,81 7,90
2012 43,68 7,53

 

Beide Konzerne treten auf der Stelle. So ist die Marke GE heute sogar klar weniger wert als 2007 und die Marke Siemens nur knapp weniger. SAP zum Beispiel konnte in diesem Zeitraum seinen Markenwert laut Interbrand von 10,85 auf 15,64 Milliarden US-Dollar massiv steigern.

Was Siemens tun sollte

Was aber sollte Siemens aus Marken- und damit auch aus Unternehmenssicht tun, um wieder nachhaltig auf Wachstumskurs zu kommen? Dazu sind zwei Schritte erforderlich. (1) Man sollte die Marke Siemens wirklich auf Kernbereiche fokussieren, in denen man europaweit oder noch besser global eine dominante Rolle spielen kann. (2) Man sollte in Zukunftsbereichen, in denen man eine Führungsrolle einnehmen möchte, neue Marken bauen oder auch zukaufen, um so aus dem heutigen Dachmarkenunternehmen nachhaltig ein Mehr-Marken-Unternehmen zu bauen. Genau das sollte auch General Electric tun.

Wachstumshemmer Marke

Denn genau die allseits bekannte und geschätzte Marke Siemens wird auf Dauer für Siemens zum Wachstumshemmer, da eine Marke nicht für alles und jedes stehen kann. Das gilt nicht nur für Siemens und General Eelectric. Das gilt heute für viele, viele gute alte b2c- und b2b-Traditionsmarken, die ihren Zenit erreicht haben.

Viele Marken, die wir heute bewundern, setzten nach dem Zweiten Weltkrieg so richtig zu ihren Höhenflügen an. Nur immer mehr dieser Marken müssen heute froh sein, wenn sie gerade noch mit der Inflationsrate wachsen. In der Not wird die Marke dann einmal gedehnt, dann wieder refokussiert, dann wieder gedehnt, dann wieder refokussiert, dann wieder gedehnt. Ein Restrukturierungsprogramm jagt dann das andere. (Gleichzeitig wird das Ganze intern natürlich mit Effizienzprogrammen begleitet.)

Kein guter Weg! Denn so werden enorme Ressourcen vergeudet, die man nutzen sollte, um in Zukunftsbereichen neue Marken zu bauen. Das gilt für b2b und für b2c. So stehen sich heute viele Unternehmen selbst im Weg, weil man das Potenzial der eigenen bekannten Marke maßlos überschätzt und gleichzeitig das Potenzial einer neuen Marke maßlos unterschätzt. Nicht umsonst meinte Managementlegende Peter Drucker einmal, dass viele Unternehmen ihre Zukunft auf dem Altar der Vergangenheit opfern.

Zuerst eine starke Marke, dann die zweite, dann …

Natürlich ist das Konzept „mehrere Marken parallel zu führen“ nicht für alle Unternehmen gleich geeignet. Die Grundvoraussetzung ist, dass man bereits eine starke Marke besitzt, die ihren Markt dominiert. Wenn man a la Google mit Google so eine Marke besitzt, dann macht es enorm Sinn, dass man auch Marken wie YouTube oder Android parallel dazu führt.

In der Praxis zeigt sich leider nur, dass viele kleinere und mittelständische Unternehmen viel zu viele Marken besitzen, die man sich weder leisten kann noch leisten sollte. Hier sollte man auf eine Marke setzen, um diese zum nationalen und internationalen Erfolg zu führen, um erst dann über eine zweite, dritte oder auch vierte Marke nachzudenken. Viele große Unternehmen und vor allem auch viele Konzerne wiederum besitzen viel zu wenige Marken. Das sollte nicht sein, denn die Zukunft gehört definitiv den Mehr-Marken-Unternehmen. Das sollte man aktuell bei Siemens, Sony, Hewlett-Packard, Nokia, Microsoft und vielen anderen Unternehmen bedenken, die gerade in Zukunftsbereichen zu sehr auf die eigene gute, alte Marke vertrauen.

Über den Autor: Markenstratege Michael Brandtner ist der Spezialist für strategische Markenpositionierung und Associate im Beraternetzwerk von Al Ries. Er ist zudem Autor des Buches „Brandtner on Branding“ und Mitautor des eBooks „Visueller Hammer“, das im April dieses Jahres erschienen ist. Sein Markenblog: www.brandtneronbranding.com.