Fangen wir beim Norden an: Deutschland, Großbritannien, Skandinavien, Holland und auch Polen – die Zeitstimmung in diesen Ländern ist davon geprägt, erstaunlich erfolgreich mit den Anforderungen der globalisierten Effizienzkultur mitzuhalten. Die Konsumforschung von concept m zeigt, dass ein beschleunigter Puls den Alltag bestimmt. Die Entritualisierung und Zerstückelung von Tagesläufen ist das beherrschende Thema: Statt fester Mahlzeitenfolgen gibt es ganztägiges „Snacking“, statt fester Fernsehzeiten gewinnt „Watchever“, statt Fußgängerzone sucht man den individualisierten Webshop von Zalando auf. Diese Konsumwandlungen markieren die erfolgreiche Anpassung an das Diktat des Fortschreitens. Aber als Gegenbewegung wächst die Sehnsucht nach Mäßigung und dem menschlich-beschaulichen Maß.
Sehnsucht nach Einfachheit
Hier setzt die Wunschprojektion der scheinbar intakten, idealen „südlichen“ Verhältnisse ein: der erdverbundene Bauer aus dem Périgord, der seinen Le-Tartare-Käse noch genießen kann, der lebensfrohe Grieche, der zwar die Schulden nicht begleichen kann, aber uns mit seinem Ouzo zuprostet, die beschwingte Aperol-Spritz-Bohème aus Italien – diese Fantasiegestalten aus der nördlichen Konsumwelt repräsentieren die Sehnsucht nach Ausstieg aus den Zwängen der nordischen Effizienzkultur.
Die Toskana- und Mallorca-Fraktion unter den Deutschen, die Chiantishire-Fans und Camarque-Besatzer unter den Engländern sind Eliten, die zwischen Nord und Süd vermitteln, indem sie sich mit dem materiellen Reichtum des Nordens in das Dolce Vita und das Savoir Vivre des Südens einkaufen. Die biedermeierliche Sehnsucht nach Rückkehr in beschaulich einfach geordnete Verhältnisse ist aber auch die Hauptmotivation für die rückwärtsgewandte Identitätssuche in Landlust- und Biomarktritualen, wie sie im Norden längst den Mainstream des Food-, Retail- und Gastronomie-Designs durchdrungen hat – siehe die Rügenwalder Mühle, den Kerrygold-Bauern und die Marché-Autobahnraststätten.
Lebensstile unter Anpassungsdruck
Und der Süden? Hier hat sich die nördliche Effizienz als Aufstiegs- und Entwicklungsmuster angeboten. Die Fiats und Seats wurden in Italien und Spanien gerne gegen die status-stärkeren Opel und VW eingetauscht, Mediamarkt und Bauhaus traten einen kleinen Siegeszug an, ja selbst McDonald’s und Starbucks haben sich bei der Jugend durchgesetzt. Alle diese Marken repräsentieren, endlich an den Fortschritts-Puls des Nordens Anschluss gefunden zu haben. Der Euro versprach dazu noch im Grundsätzlichen die große Angleichung zwischen Süd und Nord.
Die Eurokrise ist nun jedoch als ein Symptom für die tiefergreifende Krise der Alltags- und Lebensstile im Süden zu verstehen – und der damit verbundenen Identitätsverwerfung. Die traditionellen Alltags- und Lebensstile lassen sich unter dem ökonomischen Konkurrenzdruck des Nordens nicht unbeschadet fortsetzen, denn sie sind ja gerade nicht auf die nördliche Effizienz gepolt.
Auf einmal heißt es: Schluss mit dem zweiten Frühstück in der Espresso-Bar, Schluss mit dem stundenlangen Zweieinhalb-Gänge-Menü in der Mittagspause, Schluss mit den nationalen Ferien Mitte August. Dabei sind es gerade diese Bastionen glücklicher südlicher Alltagskultur, die der Norden dem Süden so neidet und die er in seinen vielfältigen Konsumdesigns und Werbefantasien fortlaufend kopiert – beispielhaft genannt seien die Rustica-Pizza oder und die Liberté-Zigarette.
Marktpsychologie als Wegweiser
Bezeichnend für die Kluft und Drift zwischen den Nord- und Südländern sind die zunehmenden Unterschiede, die Familienkultur und Familienwerte ausmachen: Im Norden sind Individualismus und loser Familienzusammenhalt vorherrschend – als Gegenpol auch Helikopter-Eltern, die über die Fortschritte ihrer Projekt-Kinder wachen.
Im Süden entwickelt sich die Rückbesinnung auf die Großfamilie als Schutzhafen und Trutzburg in Krisenzeiten zur dominierenden Grundausrichtung. Die Rente von Opa muss in aktuellen Krisenzeiten das Studium der Enkel finanzieren helfen, aber jeden Sonntag kommen alle zum Familien-Mahl zusammen. „Dove c’è Barilla c’è casa“ (Wo Barilla ist, ist zu Hause) – diese und unzählige andere Marken schützen im Süden die Heilsfantasie des familiären Zusammenhalts.
Wie die hier dargestellte Analyse zeigt, ist die Dechiffrierung kultureller Projektionsmechanismen ein wertvolles Werkzeug für das Verständnis von erfolgreichen europäischen Produkt- und Markenstrategien. Die Marktpsychologie kann den Weg weisen, wenn man im Kontinent der vordergründig disparaten Konsummentalitäten die verdeckten aufeinander bezogenen Werte entdecken will.
Über den Autor: Dirk Ziems ist Managing Partner beim Marktforschungsinstitut concept m (Berlin/Köln/London). Darüber hinaus hält er Lehraufträge unter anderem an der Hochschule für Wirtschaft Berlin, und er ist ein gefragter Referent auf Kongressen.