Zweifelsfrei lässt sich hier kein generelles Bild zeichnen, jedoch belegen erste Indikatoren, dass wir im Jahr 2004 weiter von der Idee der marktorientierten Unternehmensführung entfernt sind als noch in den achtziger und neunziger Jahren.
Die Zahl der Marketingvorstände in den Unternehmen hat in den letzten Jahren drastisch abgenommen. Häufig nehmen Vertriebsvorstände auch am Rande Marketingaufgaben wahr, obwohl sie von ihrer Ausbildung und Denkweise primär verkaufsorientiert sind. Vor allem im Dienstleistungs- und Industriegüterbereich ist dies auffällig. Nun könnte man argumentieren, dass in der Zwischenzeit die Idee der marktorientierten Unternehmensführung die Unternehmen so durchdrungen hat, dass jeder Vorstand sie lebt. Erfahrungen widerlegen dies jedoch: Vorstände, die mit dem Phänomen Marke lediglich den Namen und eine schöne Kommunikation nach außen verbinden, leben dieses Prinzip nicht. Sie verkennen, dass eine markenorientierte Denkweise sowohl nach innen als auch über das komplette Marketinginstrumentarium nach außen wirkt. Wenn schon bei diesem für die meisten Unternehmen wichtigsten zentralen immateriellen Asset solche Fehlinterpretation – trotz gebetsmühlenartigen Betonen – der Wichtigkeit der Marke auftreten, wie muss dies dann erst in den anderen Bereichen aussehen?
Die Ausführungen in den Einführungskapiteln der Marketingbücher werden ebenfalls ad absurdum geführt. Hier kann man die einzelnen Orientierungsphasen nachlesen: vom Engpass in der Produktion hin zum Verkauf, was produziert wird, bis zur Phase des Käufermarktes, wo man sich an den Bedürfnissen und Wünschen der Kunden orientiert und bedarfsorientierte Angebote vermarktet, um die Kunden langfristig zufrieden zu stellen und zu binden.
Bei einem näheren Blick in die Praxis stecken viele Unternehmen nach wie vor in der zweiten Phase des Verkäufermarktes: Es wird verkauft, was produziert wird. Der Vertrieb dominiert vielfach das Marketing. Das Marketing dient lediglich dazu, den Verkauf zu unterstützen. Von marktorientierter Unternehmensführung kann kaum die Rede sein.
Indikatoren dafür sind die wachsenden Ausgaben für kurzfristige Verkaufsmaßnahmen, die dramatischen Preisnachlässe über alle Branchen hinweg, welche nur zum Ziel haben, die produzierte Ware in den Markt zu drücken. Die Idee dahinter ist einfach: Die Produktionsanlagen müssen laufen, da durch eine entsprechende Auslastung kosteneffizient gearbeitet und Arbeitsplätze gesichert werden können.. Der Vertrieb enthält entsprechende Vorgaben zum Verkauf. Die Marketers liefern dazu die bunten Pappen, die den Verkauf fördern sollen. Einem echten Marketingmann muss dies Tränen in die Augen treiben, aber in vielen Märkten ist dies die nackte Realität.
Bei näherer Betrachtung der Marketingmaßnahmen gewinnt man allerdings auch den Eindruck, dass Marketingmanager dem situativen Druck nachgeben und kurzfristige gegenüber langfristig geplanten Maßnahmen vorziehen. Dies ist der einfachere Weg, weil man sich nicht mit anderen Abteilungen und der Unternehmensführung intensiv auseinandersetzen und seinen anderen Standpunkt vertreten muss, sondern opportunistisch handeln kann. Das System fördert auch die Kurzfristigkeit. Befördert wird, wer schnell Erfolge aufweist. Dies führt teilweise dazu, dass im Extremfall manche Manager schnell aufsteigen, aber den Nachfolgern ein Trümmerfeld hinterlassen, weil mit Blick auf schnelle Erfolge Markenguthaben vernichtet wird. Zudem will man den Forderungen der Wirkungsbelege der getätigten Investitionen nachkommen und „Erfolge“ vorweisen. Da dies wesentlich einfacher bei kurzfristigen als bei langfristigen Maßnahmen möglich ist und auch Kosteneinsparungen als konforme Maßnahmen verkauft werden können, bleiben Aspekte der marktorientierten Unternehmensführung zwangsläufig auf der Strecke.
Die daraus resultierenden Konsequenzen sind jedoch ebenfalls dramatisch. Durch die Vervielfachung der Promotions, der Rabattierungen und der Bonussysteme verlieren Unternehmen gleichermaßen Renditen auf hohem Niveau, ohne dadurch die gewünschten Zuwächse zu erzielen. Zudem werden die Kunden erzogen: Dumm ist, wer regulär kauft, schlau ist, wer auf Schnäppchen wartet. Deshalb wächst die Zahl der System Beaters oder Smart Shoppers, die mit ihrem Kauf so lange wartet, bis ihre präferierten Marken im Sonderangebot offeriert werden. Das aus der Marke resultierende potenzielle wird dadurch nicht ausgeschöpft.
Ist dies das Ende der marktorientierten Unternehmensführung? Meiner Meinung nach auf keinen Fall, im Gegenteil: Es ist die Chance einer Renaissance marktorientierter Unternehmensführung, denn die Folgen einer einseitigen Ausrichtung auf eine kosten- und entwicklungsgetriebene Unternehmensführung wird bereits seit längerem sichtbar. Bei den Kosten sei nur auf Herrn Lopez verwiesen, den „Heilbringer“ der Kosteneinsparung, von dem heute keiner mehr spricht. Ob man bei Opel den Kosteneinsparungen auch die daraus erwachsenden höheren Folgekosten durch vermehrte unentgeltliche Werkstattbesuche und den Verlust des Symbols der Zuverlässigkeit, ein Nutzen, der heute pikanterweise von Toyota in hohem Maße erfüllt wird, entgegengerechnet hat, ist fraglich. Entwicklungsgetrieben steht außer Frage, dass man im Automobilbereich für viele Modelle unendlich viele verschiedene Motorvarianten produzieren kann, ob diese dann aber auch im Markt gebraucht werden ist eine andere Frage.
Man kann heutzutage auch die Autos mit Technik überladen, ob man dadurch jedoch als Kunde ein besseres oder komfortableres Fahrverhalten empfindet, sei dahingestellt. Baut man jedoch solche Autos, bei denen nur ein sensibler Hintern wie der von Michael Schumacher die Fahrunterschiede merkt, produziert man am Markt vorbei und schafft sich möglicherweise Probleme: In diesem Fall durch zu hohe Kosten und durch daraus resultierende negative Konsequenzen. Das deutsche Automobile an Zuverlässigkeit zunehmend leiden und schlechter beurteilt werden als beispielsweise japanische Autos liegt auch an dem hohem Maße richtungsweisender, aber hochgradig anfälliger Technik. Dabei hat schon Schumpeter gefordert, Innovationen auf den Markt zu bringen, aber nur dann, wenn sie den Kunden einen echten und wahrnehmbaren Nutzen liefern.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand:
- Es bedarf einer Sensibilisierung für eine marken- und kundenbezogene marktorientierte Unternehmensführung. Mit Blick auf den Markt sind Marken die zentralen immateriellen Assets eines Unternehmens. Entsprechend sind die Marketingmaßnahmen und marktbezogene Tätigkeiten und Entwicklungen daran auszurichten. Es sind weniger die reinen Effizienzmaße, wie z.B. eine erfolgreiche Absatzförderung durch POS-Displays, im Fokus, sondern Effektivitätsmaße zur Marke, die dann um markenkonforme Effizienzmaße ergänzt werden. Die marktorientierte Unternehmensführung bedarf entsprechend eines Markenkontroll-Cockpits zur Steuerung, das sich an der Identität der Marke und an den Ansprüchen der Anspruchsgruppen orientiert. Ein Beispiel: Zweifelsfrei ist es effizient, in einem Jaguar Schalter eines Fords einzubauen. Man spart Kosten. Doch ist dies im Sinne der Marke auch effektiv, oder führt dies langfristig zu einer Verwässerung einer solch hochwertigen Marke? Mit markenbezogenen Erfolgskennzahlen kann man solche Fehlgriffe, die kurzfristig effizient sein mögen, aber langfristig schaden, aufdecken.
- Kurzfristmaßnahmen sind in den Kontext der langfristigen Markenführung zu integrieren und mit Blick auf die Markenstärkung und die bessere Befriedigung von Kundenbedürfnissen zu evaluieren.
- Marktorientierte Unternehmensführung ist nicht reaktiv, sondern aktiv. Man folgt nicht den üblichen Trends, man ergibt sich nicht der Rezession und passt seine Marketingbudgets nach unten an, sondern richtet diese an den mit den Marken verfolgten Zielen aus. Ein Beispiel: Geht es der Wirtschaft schlecht, werden meist die Kommunikationsbudgets reaktiv zusammengestrichen. Die Logik eines solchen Vorgehens ist irreal, man zäumt das Pferd von hinten auf. Dabei ist bekannt und belegt, und dies nicht nur für den deutschen Markt, dass es sich gerade in rezessiven Zeiten lohnt, mehr in Kommunikation zu investieren. Unternehmen, die dies tun, gehen meist gestärkt aus dem Wettbewerb hervor.
- Bestimmte Zukunftserwartungen lassen sich nicht mit harten Zahlen untermauern. Die Zukunft ist unsicher. Hier muss man auch als Marketingexperte in der Lage sein, sich durch theoretisch fundierte Argumente Vorteile von Maßnahmen, die schwer rechenbar sind, zu vertreten und realistische Szenarien zu zeichnen, anstatt sich auf das glatte Parkett zu begeben, jede Maßnahme statistisch genau belegen zu wollen. Dadurch werden große Würfe oft erst möglich.
- Kosteneinsparungen sind (qualitativ und quantitativ) die möglichen negativen Folgen für Marken und Kunden gegenüber zu stellen – und dies auf einem Zeitstrahl. Ein Beispiel: Man kann sicherlich bei Verpackungen Kosten einsparen. Allerdings spielt gerade bei hochwertigen Marken auch die Ästhetik der Verpackung eine wichtige Rolle, die neben emotionalen Aspekten wie Modernität und Gefallen auch durch Praktikabilität gekennzeichnet ist. Wenn ein Hersteller seine Marken im Kühlregal nun dahingehend „optimiert“, dass die Verpackung günstiger produziert werden kann, diese dadurch jedoch schneller die Feuchtigkeit aufsaugt und dadurch schmutzig wirkt, erweist man sich damit langfristig einen Bärendienst. Dies umso mehr, weil auch die Handelsmarken hier immer professioneller werden. Manche Aldi-Verpackungen stellen schon heute die eine oder andere Herstellerverpackung in den Schatten. Womit will man dann noch ein Preis-Premium rechtfertigen? Diese Denke ist bei uns jedoch leider mehr als hoffähig geworden. Man ärgert sich beispielsweise bei Opel darüber, dass wegen der unterschiedlichen Platzierung zweier zentraler Anbringungsschrauben bei Opel und Saab letzterer nicht auf der gleichen Produktionsanlage produziert werden kann. Müsste man hier „leider“ oder vielleicht besser „Gott sei Dank“ sagen? Dies ist zweifelsfrei eine Frage der Perspektive. Marken haben jedoch nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie sich deutlich von anderen Marken differenzieren und den Kunden einen klaren und relevanten Kundennutzen bieten.
Die Ausbildung von Managern und künftigen Entscheidungsträgern an den Hochschulen muss den Anforderungen einer marktorientierten Unternehmensführung gerecht werden. Der Blick für das Ganze und die grundlegenden Zusammenhänge darf durch die bloße Vermittlung von Detailwissen in Spezialbereichen nicht verstellt werden. Dieses ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend.
Prof. Dr. Franz-Rudolf Esch ist Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Marketing an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Direktor des dortigen Instituts für Marken- und Kommunikationsforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Gründer und wissenschaftlicher Beirat von ESCH. The Brand Consultants
www.imk@wirtschaft.uni-giessen.de
www.esch-associates.de
Literatur:
Esch, F.-R. (2004): Strategie und Technik der Markenführung, 2. Aufl., Vahlen Verlag, München.
Kroeber-Riel, W. Esch, F.-R. (2004): Strategie und Technik der Werbung, 6. Aufl., Kohlhammer Verlag, Stuttgart.
Esch, F.-R., Tomczak, T., Kernstock, J., Langner, T. (2004): Corporate Brand Management, Gabler Verlag, Wiesbaden.