Dass Menschen bereit sind, viele Tausend Euro für einen Neuwagen zu bezahlen, den sie nur online gesehen und nie Probe gefahren haben, hat der Autohandel lange bezweifelt. Bis Volvo im August 2014 seinen neuen Luxus-SUV XC90 exklusiv online und in limitierter Stückzahl anbot. Binnen 47 Stunden waren die Autos ausverkauft. Die Kund*innen zahlten bereitwillig 90.000 Euro für ein Modell, das sie nie live gesehen, angefasst oder Probe gefahren hatten. Und Volvo generierte binnen zwei Tagen 173 Millionen Euro Umsatz – vorbei am gewohnten Vertriebsnetz.
Fünf Thesen für den Autohandel der Zukunft
Die Autobranche steckt inmitten einer Mega-Mehrfach-Transformation: Das Produkt wird neu erfunden, das Mobilitätsverständnis ändert sich. Beides haben die Hersteller inzwischen auf dem Schirm. Doch die Gefahr ist groß, dass sie den dritten großen Gamechanger übersehen: die Notwendigkeit neuer Vertriebswege.
1. Offline goes online
2025 wird in Europa vermutlich jeder dritte Neuwagen online verkauft, schätzt die Beratungsfirma Bain. Der Autohandel muss deshalb die Customer Journey überdenken und sämtliche Übergänge von on- zu offline nahtlos gestalten. Denn Interessent*innen gehen längst nicht mehr als Erstes zum Autohändler ihres Vertrauens. Laut einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger starten 97 Prozent der Neuwagenkäufe heute online. Und wer im Netz sucht, will direkt vom Hersteller bedient werden. Die “jungen Wilden” auf dem Automarkt zeigen, wie das konsequent durchgezogen wird. Das schwedisch-chinesische Start-up Polestar verkauft seine E-Autos ausschließlich online; die wenigen stationären „Spaces“ dienen lediglich zur Beratung und als Startpunkt für die Probefahrt.
2. Verknappung statt Überproduktion
Klimakrise, Energiekrise, Chipkrise: Eine Gemengelage ungünstiger Faktoren hat das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Neuwagenmarkt verschoben. Die Pkw-Produktion in Deutschland fiel 2021 auf den niedrigsten Stand seit 1975. Die Idee, dass eine Fabrik maximal ausgelastet sein muss und eine mögliche Überproduktion das Problem des Vertriebspartners ist, hat sich damit erledigt. Das Auto wird in den Städten und bei der jungen Generation vom Alltagsgegenstand zum Luxusobjekt. Diese Entwicklung muss sich in den Vertriebsstrategien widerspiegeln: über die Begrenzung des Angebots, über Markenpräsentation und Preisgestaltung.
3. D2C wird zum Must
Als der Luxuskonzern LMVH 2016 die Mehrheit des Kofferherstellers Rimowa übernahm, kündigte er als Erstes allen Handelspartnern in Europa die Verträge. Die Koffer mit den kultigen Rillen sind nun hauptsächlich online und in Brand Stores erhältlich. Einzelhändler, die sich um eine Rimowa-Konzession bewerben, müssen strenge Vorgaben einhalten bezüglich Preisgestaltung und Produktpräsentation.
Im Autohandel auf Direct-to-Consumer (D2C) zu setzen, bedeutet, dass Hersteller endlich die Hoheit über die Marke und den Preis zurückerobern. Modelle werden dann nicht mehr in der Peripherie verkauft oder vom Leasingnehmer so konfiguriert, dass der Markenkern gefährdet und ein Weiterverkauf schwer möglich ist.
4. Retailing statt Retail
Die neue Kundenansprache funktioniert nicht mit den Marketing-Tools von gestern und auf 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche im Industriegebiet hinter hohen Glasfassaden. Wagen müssen heute dort präsentiert werden, wo die Kund*innen sind – in der Innenstadt, auf Festivals, bei der Eröffnung des Gourmet-Tempels.
Retail erfordert ein anderes Mindset, neue Skills: Retailing wird zur neuen Kernkompetenz von Marken. D2C hilft dabei, ein neues Kundenverständnis zu generieren. Denn alle entlang der Customer Journey generierten Daten verschwinden nicht mehr im Bermuda-Dreieck des Vertriebs, sondern stehen dem Hersteller exklusiv zur Verfügung. Daten sind der Schlüssel zur intelligenten Kundenansprache und -pflege, für die Entwicklung bedarfsgerechter Lösungen sowie neuer Umsatzpotenziale.
5. Die hohe Kunst des Showroomings
Der chinesische Autoproduzent Nio, seit Kurzem auch in Deutschland präsent, hat seine Autohäuser umfunktioniert zu multifunktionalen Lifestyle-Tempeln mit Kinderbetreuung, Coworking-Möglichkeit und Bibliotheken. Denn: Das Autohaus der Zukunft verkauft keine Autos mehr.
In einer D2C-Welt ist das alte Hasswort “Showrooming” die neue Erfolgsdisziplin: Das Autohaus von morgen ist ein Ort, an dem neue Modelle erkundet und erlebt werden können. An dem Berater nur noch beraten und nicht verkaufen müssen. Ein Ort, an dem eine Community zusammenkommt und die Marke mit Leben füllt.
Fazit: Ingenieurskunst ist nur noch das halbe Geschäft
Die deutsche Autoindustrie ist zu Recht stolz auf ihre Ingenieurskunst. Heute aber reicht es nicht mehr, Spitzentechnologie herzustellen. Man muss sie auch verkaufen können. Das Business wird sich weiterentwickeln, weg vom ingenieursgetriebenen hin zum kundengetriebenen Konzept. Wer jetzt nicht abbiegt in Richtung D2C, lässt die nächste Generation von Mobilitätsanbietern an sich vorbeiziehen.