In seinem Gastbeitrag für die absatzwirtschaft sprach Marc Schumacher Anfang dieser Woche an gleicher Stelle von dem fundamentalen Wandel, in dem sich die Autobranche befindet: Neue Mobilitätsgewohnheiten, neue Automarken, neue Vertriebswege. Er leitet daraus unter anderem ab, dass die Ingenieurskunst, über die sich vor allem deutsche Automarken gerne definieren, an Bedeutung verliere. In vielen Aspekten seiner Analyse hat er Recht, etwa mit der Hinwendung zu D2C-Modellen oder der neuen Rolle von Showrooms. Problematisch allerdings: Mit Ingenieurskunst hatte dieser Teil der Autobranche noch nie etwas zu tun. Denn Autohäuser und Autohersteller sind nicht dasselbe.
Der zentrale Denkfehler besteht darin, dass mein geschätzter Kollege Schumacher eine liebgewonnene Tradition der Autobranche ignoriert: Wer mein Auto herstellt, verkauft es mir nicht. Über die Jahrzehnte hat sich so eine dritte Marktmacht neben Automarke und Käufer etabliert: das Autohaus. Und genau diese Marktmacht sieht sich gerade von allen Seiten angegriffen, ob von den Autoherstellern selbst, die mit eigenen Vertriebsmodellen ihren über die Jahre gewachsenen Handels-Arm amputieren, oder von neuen Playern wie Finn, Carvana oder Cluno. Denn letztlich sind auch Auto-Abo-Anbieter nichts anderes als Autohäuser mit anderem Bezahlmodell.
Von der Automarke zur Autohausmarke
Das Gute daran: Die Neuordnung des Automarkts zwingt die Autohäuser dazu, ihre eigene Marke zu werden. Der klassische Werte-Transfer von der Automarke auf die Autohausmarke wird schon sehr bald nicht mehr funktionieren. Darin liegt eine riesige Chance für die, die Verkauf nicht erst über neue Geschäftsmodelle lernen müssen, sondern bereits gut beherrschen. Sie können sich auf Evolution statt Revolution konzentrieren und sich damit mittel- und langfristig von ihrer Abhängigkeit von Autoherstellern lösen, weil sie genau nicht mehr von deren Markenwerten leben müssen.
Von Retailing zu Retaining
Wie sieht so eine moderne Autohausmarke aus? Eine Antwort kann sein: weniger räumlich, zumindest nicht in Form von Verkaufsfläche. Statt auf Ausstellungsfläche für Produkte, setzen erfolgreiche Autohausmarken schon heute auf Erlebnisfläche. Sie haben verstanden, dass der einfachste Weg, Kunden auf die Fläche zu locken, darin besteht, besseren Kaffee und bessere Musik zu haben als alle anderen. Damit bieten sie einen Vorteil, den E-Commerce-Modelle bestenfalls mit Convenience beantworten können, aber nicht mit Kundenbindung. Gutes Retailing besteht heute mehr denn je in gutem Retaining, denn Kunden zu halten ist die Königsdisziplin, nicht nur in der Autobranche.
Von der Sales Company zur Tech Company
Apropos E-Commerce: Moderne Autohäuser sollten aufhören, sich als Sales Companies zu verstehen. Sales ist, was sie tun, aber nicht, wie sie es tun. Die digitale Konkurrenz hat das längst verstanden. Auto-E-Commerce-Plattformen inszenieren sich genau deshalb gerne als Tech Companies, nicht nur um die eigene Bewertung in die Höhe zu treiben. Damit widersprechen sie Marc Schumacher in einem weiteren, entscheidenden Punkt: Ingenieurskunst ist nicht die halbe Miete, sondern zweihundert Prozent der Miete. Der Unterschied ist nur: Wir sprechen nicht mehr von mechanical engineering, sondern von software engineering. Ingenieurskunst, die für zahllose Jobs und einen Milliardenumsatz steht.
Fassen wir also zusammen: Ja, das Autohaus der Zukunft verkauft keine Autos mehr. Wenn es das nicht will. Denn das Autohaus der Zukunft kann sich aussuchen, wessen Autos es verkauft. Weil es Verkauf in- und auswendig kennt. Der Rest ist digitales Rüstzeug und viel, viel Markenentwicklung.
Der Autor: Florian Severin hat nach Stationen in Verlagen, Agenturen (Territory, Burda) und Start-ups (Finn) die Agentur WRKSPC gegründet. Sie spezialisiert sich auf ganzheitliche Markenentwicklung und verzichtet bewusst auf klassische Hierarchien und Arbeitsweisen. Kunden der erst im Herbst 2022 gegründeten Münchener Agentur sind unter anderem Fraunhofer, Rewe und die Bayerische Staatsoper.