Bill versus Steve
Vor etwa einem Jahrzehnt war die Einführung des ersten Tablet-Computers eine große Sache. Microsoft investierte damals 400 Millionen US-Dollar in das Betriebssystem inklusive einem Tool zur Handschrifterkennung. 14 namhafte Computerunternehmen, unter anderem Hewlett-Packard, Toshiba, Hitachi, Fujitsu, NEC und Acer waren mit im Boot, um diese Tablet-Computer zu produzieren. „Das ist die ultimative Weiterentwicklung des Laptops“, erklärte dazu Bill Gates. „Innerhalb von 5 Jahren“, prophezeite er: „wird er die populärste Form des PCs in Amerika sein.“ Nichts dergleichen geschah.
Die damalige Originalversion des Tablet-Computers und die aktuelle Version könnten nicht verschiedener sein. Diese beiden Produkte illustrieren aber perfekt eine wichtige konzeptionelle Idee, wenn es um das Thema Innovation geht. Der Tablet-Computer aus dem Jahre 2002 war ein Konvergenzprodukt. Er kombinierte die Funktionen eines Pen-Computers mit den Funktionen eines herkömmlichen Laptop-Computers.
Der Tablet-Computer aus dem Jahr 2010, der iPad ist genau das Gegenteil von einem Konvergenzprodukt, also ein Divergenzprodukt. Er ist quasi ein Laptop, bei dem Apple die Tastatur abtrennte und wegwarf, um dann die wichtigsten Tastatur- und Mausfunktionen durch einen Touchscreen zu ersetzen. Was übrig blieb war eine gänzlich neue Computerkategorie: Leichter, kleiner, einfacher zu bedienen und total auf die visuellen Funktionen eines konventionellen Laptops fokussiert.
Etwas wegnehmen als Schlüssel zum Erfolg
„Was können wir den Kunden noch bieten“, ist heute die übliche Frage im Marketing. Viel besser wäre es aber zu fragen: „Was können wir weglassen, um so den Kunden etwas gänzlich Neues zu bieten?“
James Dyson ließ den klassischen Staubsaugerbeutel weg, um mit dem ersten „beutellosen“ Staubsauger die weltweit führende Staubsaugermarke zu bauen. Ingvar Kamprad ließ sogar drei Kundennutzen weg, als er die Marke Ikea startete. So mussten sich die Ikea Kunden selbst bedienen und sie mussten sich auch noch die Möbel selbst abholen und dann daheim noch selbst zusammenbauen. (Kann man noch kundenunorientierter sein?) Heute ist Ikea der größte Möbelhändler dieser Erde. Gleichzeitig versuchten und versuchen immer mehr kleine Möbelhändler vergeblich mit noch und noch mehr und noch mehr zusätzlichen Serviceleistungen zu punkten.
Damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Wenn man bei einem bestehenden Produkt „mehr“ hinzufügt, wird das Produkt vielleicht begehrenswerter, aber es entsteht dabei nicht wirklich etwas Neues. Wenn man bei einer Automarke serienmäßig Ledersitze anbietet, wird diese Marke dadurch nicht in eine neue, andere Kategorie bewegt. Wenn man bei einem Möbelhaus noch mehr Serviceleistungen anbietet, bleibt es trotzdem immer nur ein Möbelhaus.
Fit ohne Geräte
Oder nehmen Sie aktuell den Markt für Fitnesstrainer. Es gibt heute weltweit Fitnesstrainer wie Sand am Meer. Wie also kann sich ein Einzelner in diesem Markt profilieren? Die traditionelle Antwort lautet sicher: Wie kann man ein noch besseres und noch ausgetüftelteres Trainingsprogramm rund um noch bessere Geräte entwickeln? Das ist tpyisches „Mehr“-Denken.
Was machte Mark Lauren? Er landete einen Volltreffer und Weltbestseller mit dem Thema bzw. dem Titel „Fit ohne Geräte“. Heute gilt er für viele als der „Bodyweight-Trainer“ dieser Erde. Aktuell liegt sein Buch bei Amazon in Deutschland auf Platz 2 und ist dort in Summe seit 877 Wochen in den Top 100 der meistverkauften Bücher.
Einmal anders denken
In vielen Strategie- und Marketingmeetings steht heute der Kunde im Mittelpunkt. Man sucht nach Wegen, wie man diesem Kunden noch mehr an Leistung bieten kann. Nur in vielen Fällen findet man die wirklich starken Ideen für die Zukunft, indem man überlegt, was man weglassen kann. Amazon ließ den traditionellen Buchhandel links liegen. Ryanair ließ die herkömmliche Fluglinie mit ihrem Rundumservice links liegen. Mark Lauren ließ die Fitnessgeräte links liegen. Was können Sie links liegen lassen, damit Sie morgen am Markt noch erfolgreicher werden? Eine interessante Fragestellung, die zu außergewöhnlichen Ergebnissen und Markterfolgen führen kann.
Über den Autor: Markenstratege Michael Brandtner ist der Spezialist für strategische Marken- und Unternehmenspositionierung in Rohrbach, OÖ, Associate of Ries & Ries und Autor des Buches „Brandtner on Branding“. Sein Blog: www.brandtneronbranding.com