Wer in diesen Tagen im morgendlichen Stau an der Ampel stand oder einen Teil des Weihnachtsurlaubs in überfüllten Flughäfen oder Zügen verbracht hat, hat die Gelegenheit vielleicht auch ein bisschen zum fröhlichen Gedankenschweifen genutzt. Und kam dann vielleicht relativ schnell auf einen Aufsatz von Matthias Horx. Am 16. März 2020, also an jenem Tag, an dem der erste Corona-Lockdown in Deutschland beschlossen wurde, schrieb der Zukunftsforscher: „Die Welt as we know it löst sich gerade auf“. In dem damals viel beachteten Text glaubte Horx an eine Zukunft, in der sich viele „nach einer ersten Schockstarre“ sogar erleichtert fühlten, „dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam“. Horx und andere sahen in der Pandemie einen radikalen Bruch „mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt“.
New Normal, ein Begriff, der schon im Ersten Weltkrieg und seither zu diversen weiteren existentiellen Krisen Zeitenwenden definierte, war dank Corona wieder in aller Munde. Wenig bis gar nichts, so die Prognosen, würde nach Corona noch so sein wie zuvor. Dass vieles davon heute stimmt, liegt allerdings weniger an Corona, als vielmehr an den multiplen neuen Krisen, die die Welt heimsuchen – vom Ukrainekrieg bis zum Energie-Debakel.
Persönlicher Austausch vor Ort bleibt wichtig
Zumindest in einem – allerdings sehr wesentlichen – Punkt zeigt sich jetzt: Die Post-Corona-Zukunft ist der Pre-Corona-Vergangenheit ziemlich ähnlich: Wir Deutschen sind wieder mobil. Wir reisen wieder, wir besuchen Kinos und Konzerte – und wir verlassen sogar freiwillig unser heißgeliebtes Homeoffice, um die hochgeschätzten Kolleginnen und Kollegen mal wieder in Echt und auch unterhalb des Bauchansatzes zu sehen.
Bei Vodafone beispielsweise spürt man das deutlich. Zu Beginn der Pandemie war der Mobilfunkkonzern einer der Vorreiter in Sachen Homeoffice und Flex Work. Jetzt sagt Personalgeschäftsführerin Felicitas von Kyaw: „Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass digital vieles möglich ist. Sie hat uns aber auch gezeigt, was unersetzlich ist: Der persönliche Austausch vor Ort. Während wir unseren Mitarbeitenden viel Flexibilität bieten, erleben wir, dass sie wieder häufiger und gerne ins Büro kommen.“ Bei all der Flexibilität seien es „vor allem die direkten Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen, die unseren Arbeitsalltag bereichern“. Viele Mitarbeitende schätzten den Mix aus beiden Welten. Von Kyaw: „Besonders heben unsere Mitarbeitenden die ,zufälligen Treffen‘ hervor: Es ist nicht planbar, wen wir in der Kantinen-Schlange oder im Fahrstuhl treffen. Doch gerade das macht den Reiz aus.“
Reiselust der Deutschen ist zurück
Noch viel mehr als nach den lieben Kolleginnen und Kollegen sehnen sich die Deutschen aber offenbar nach Sonne, Strand und Meer. Denn am deutlichsten spürt das Erlöschen des heimischen Lagerfeuers derzeit die Touristikbranche. Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbands (DRV), stellte im Oktober 2022 fest: „Die Reiselust der Deutschen ist da – der Sommer und auch der Herbst laufen.“ Selbst die neuen Krisen halten die Deutschen jetzt nicht mehr vom Urlauben ab.
Bei Tui, Europas größtem Reiseveranstalter, wachsen die Buchungszahlen nach zwei harten Jahren wieder deutlich. Im Gesamtjahr 2022 hat sich der Umsatz im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht, das 4. Quartal 2022 erzielte 93 Prozent des Umsatzniveaus vom 4. Quartal 2019, lag also erstmals wieder nahezu auf Vorkrisenniveau.
Entsprechend optimistisch ist Erik Friemuth, Chief Marketing Officer & Managing Director Hotels & Resorts Tui Group: „Reisen hat eine hohe Priorität. Die Pandemie hat zu einem starken Nachholbedarf geführt.“ Und nicht nur das: Tui-Urlauber hätten im Sommer „bis zu einem Viertel mehr für ihren Urlaub ausgeben und höherwertige Reisen sowie längere Aufenthalte gebucht. „Das Interesse an Reisen ist auch für das kommende Jahr hoch, die Menschen reisen so gern wie vor der Pandemie“, sagt Friemuth. Und das kann auch die Marketingbranche freuen. Tui werde 2023 „definitiv erheblich in Marketing investieren“.
Ähnlich gut springt der Buchungsmotor auch bei DER Touristik wieder an, mit Veranstaltern wie Dertour, ITS und Meiers Weltreisen die Nummer 2 auf dem deutschen Reiseveranstaltermarkt. Ingo Burmester, CEO DER Touristik Central Europe, sagt: „Wir sehen, dass der Reiseverzicht während der Pandemie den Stellenwert des Reisens deutlich erhöht hat. Wir gehen davon aus, dass der Wunsch, Reisen wieder intensiv und vielfältig zu erleben, das kommende Reisejahr prägen wird.“ Dabei sei schon das abgelaufene Touristikjahr 2021/2022 „von großen Nachholeffekten“ geprägt gewesen. Dertour und seine Schwestermarken konnten „weitestgehend an das Vor-Corona-Niveau anschließen“ und vor allem im Sommer Umsätze über dem Niveau von 2019 erzielen. Wie sehr sich die Deutschen wieder nach Reisen sehnen, zeigt zudem, dass auch Fernreisen bei DER Touristik wieder en vogue sind. „Wir spüren die Öffnung der Fernreiseziele deutlich“, so Burmester, „und erwarten für den Sommer 2023 eine große Lust auf ferne Destinationen.“ Schon heute lägen die Buchungszahlen für Fernstreckenziele im Schnitt 60 Prozent über dem Vorjahr. Als einen Grund dafür sieht der Veranstalter den „Trend zu Workation“, der längere Reiseaufenthalte möglich mache, die es Reisenden erlaubten, „das Maximum aus langen Flugreisen“ zu holen.
Auch Dertour will das Reisefieber weiter anfachen. Matthias Lange, Chief Marketing & Customer Experience Officer DER Touristik Deutschland, sagt: „Wir werden tendenziell mehr in das Branding für die Marke Dertour investieren und planen eine größere Branding-Kampagne inklusive TV.“
Werbeausgaben steigen analog zu Buchungszahlen
Tatsächlich ist nicht nur bei den Urlaubern der Nachholbedarf groß, sondern auch bei den Reisewerbern. Ein Blick auf die Nielsen-Zahlen zeigt: Analog zu den Buchungszahlen steigen die Spendings an. 2021 haben die drei Segmente „Hotels + Gastronomie“, „Fremdenverkehr“ und „Reisegesellschaften“ zusammen rund 83,4 Millionen Euro in Werbung investiert, im ersten Halbjahr 2022 allein schon rund 47,9 Millionen Euro. Das Vor-Corona-Niveau dürfte also 2023 wieder erreicht, wenn nicht sogar getoppt werden. Damals lagen die Werbespendings der drei Segmente laut Nielsen zusammen bei 95,8 Millionen Euro.
Von der neuen alten Mobilität der Deutschen profitieren können – wenn auch noch verhalten – einzelne Gattungen. So wuchsen zwischen Januar und Oktober 2022 die Spendings in Out-of-Home um 2,8 Prozent. Die Außenwerber zählen, gemeinsam mit den Kinowerbern, zu den einzigen Gattungen, die 2022 trotz multipler Krisen überhaupt zulegen konnten. Kinowerbung wuchs um satte 157 Prozent. Wobei der Nachholbedarf hier nach mehreren Lockdowns naturgemäß auch am größten war und die Besucherzahlen mit rund 33,2 Millionen im ersten Halbjahr 2022 noch weit unter dem Vor-Corona-Niveau liegen. 2019 strömten 118 Millionen Deutsche in die Kinos.
E-Scooter-Wachstum hält an
Aufwärts geht es im Übrigen auch beim Mikro-Individualverkehr. So wuchs beispielsweise die Zahl der E-Scooter-Nutzer in Deutschland von 4,4 Millionen im Jahr 2019 auf 9,9 Millionen im Jahr 2022.
Hübsch anzusehen ist die rasant wachsende Mobilität der Deutschen auf einer Website des Statistischen Bundesamt, die das Herz jedes Datenjunkies höher schlagen lässt. Basierend auf anonymisierten Mobilfunkdaten kann man dort beispielsweise nachlesen, dass die Mobilität in München am 14.12.2022 um 19 Prozent höher lag, als am 14.12.2019. Und dass das Mobilitätsverhalten der Deutschen am 1. Juni 2022, dem Starttag des 9-Euro-Tickets, bundesweit um 13 Prozent anstieg. 52 Millionen Mal wurde das Ticket bekanntlich verkauft und ist damit auch ein ziemlich starker Beweis für den Mobilitätshunger der Deutschen. Das Ticket bescherte der Deutschen Bahn eine fette Sommerauslastung im Regionalverkehr.
Doch auch im Fernverkehr geht es bei der DB wieder bergauf. Stefanie Berk, Marketingvorstand DB Fernverkehr, sagt: „Die Menschen wollen Bahnfahren. Seit dem Frühjahr hat sich die Nachfrage auch im Fernverkehr überaus erfreulich entwickelt.“ Das Unternehmen rechne 2022 mit rund 130 Millionen Reisenden, seit April läge das Segment „durchgängig über dem Niveau von 2019“. Tatsächlich wuchs DB Fernverkehr laut DB Halbjahresbilanz um 117 Prozent. „Für 2023 rechnen wir mit weiterem Wachstum“, so Berk.
Bahn bietet neue “Klima Card” an
Seit Oktober 2022 testet die Bahn eine „Klima Card“ für Geschäftsreisende. Nach dem bisherigen Fazit gefragt, weicht Berk zwar aus, betont stattdessen: „Immer mehr Unternehmen möchten es ihren Mitarbeitenden ermöglichen, klimafreundlich und zugleich kostengünstig zu reisen. Der stark ermäßigte Preis von 49,90 Euro liegt bewusst unterhalb der Sachbezugsgrenze des geldwerten Vorteils.“ So könnten Mitarbeitende die BahnCard nicht nur geschäftlich, sondern auch privat nutzen und von der Möglichkeit einer steuerbegünstigten BahnCard profitieren. „Das ist gut für unser Klima und für das Betriebsklima“, findet Berk.
Aber natürlich geht es Berk nicht nur ums Klima, welcher Art auch immer. Es geht darum, Geschäftsreisende wieder von ihren Bildschirmen wegzulocken. Reisen statt Zoomen lautet das Ziel. Denn während das Urlaubsfieber bei den Deutschen wieder voll entbrannt ist, tut sich das Business Travel Segment noch sichtlich schwer. Vor Corona war rund jeder Dritte Kunde von DB Fernverkehr auf Geschäftsreise unterwegs, aktuell sind es nur noch rund 20 Prozent.
Das gilt für die gesamte Branche. Die aktuelle Geschäftsreiseanalyse des Verband Deutsches Reisemanagement (VDR), Deutschlands größtem Geschäftsreiseverband, nennt zwar einen Anstieg der Geschäftsreisen um 26 Prozent auf 41,4 Millionen im Jahr 2021. Von den rund 195,4 Millionen Geschäftsreisen im Jahr 2019 ist dieser Wert aber noch sehr weit entfernt. Christoph Carnier, Präsident des VDR, gibt sich dennoch professionell siegessicher. Er geht davon aus, dass sich auch das Business Travel Segment noch deutlich erholen wird: „Der Geschäftsreisebedarf ist groß und aufgrund der Krisen größer als angenommen. Zudem ersetzen digitale Lösungen nicht den persönlichen Austausch – zumindest nicht immer.“ Als ausschlaggebende Faktoren für die aktuellen Zahlen der Geschäftsreise nennt Carnier „zum einen die steigenden Kosten und zum anderen Nachhaltigkeitsbestrebungen der Unternehmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoß“.
Klimaschonendes Reisen wenig nachgefragt
Also wäre es aus Nachhaltigkeitsgründen gar nicht wünschenswert, wenn die Geschäftsreise wieder auf Vor-Corona-Niveau kommen würde? „Nein, das wäre es sicher nicht“, so Carnier, „aber Reisen werden ein wichtiger Bestandteil – auch des Geschäftslebens – bleiben.“ Es gehe darum das Reisen insgesamt nachhaltiger zu gestalten, und hier seien alle Beteiligten gefordert, Lösungen zu finden. „Unabhängig davon entsteht auch bei virtuellen Meetings CO2-Verbrauch – auch darüber muss man in Zukunft sprechen“, findet der VDR-Präsident.
Da hat DRV-Präsident Norbert Fiebig mit den überaus reiselustigen Privaturlaubern ganz andere Sorgen: „Der Wettbewerb der Zukunft wird der Wettbewerb um das Vertrauen der Kunden sein – und dabei spielt der Klimaschutz eine immer gewichtigere Rolle“, so Fiebig. Die Reisewirtschaft habe die Weichen hin zu mehr Klimaschutz gestellt. Jetzt müsste die Branche die Reisenden noch stärker mitnehmen und sensibilisieren. Laut einer aktuellen Umfrage des DRV sehen nämlich 80 Prozent der Reisebüros und Reiseveranstalter bisher nach wie vor keine pro-aktive Nachfrage nach klimaschonenden, nachhaltigen Reisen bei den Verbrauchern. Also tatsächlich fast alles wir vor Corona.