Es gibt Produkte, für die sich außer ein paar Fachleuten niemand interessiert. Dazu gehörten bis vor kurzem Luftreiniger. Dann kam Corona, und alles wurde anders.
„Luftreiniger haben durch die Pandemie extrem an Aufmerksamkeit gewonnen. Fast jeder weiß heute, was ein Hepa-Filter ist“, sagt Christine Wall-Pilgenröder, Geschäftsführerin der Camfil GmbH in Reinfeld nahe Lübeck, die zur schwedischen Camfil Group gehört. Diese ist seit mehr als 60 Jahren auf Filter spezialisiert und beschäftigt weltweit rund 4800 Mitarbeiter, in Reinfeld arbeiten 380 von ihnen. Leitspruch der Firma: „Saubere Luft – ein Menschenrecht.“
Corona macht Luftfilter zu populärem Produkt
Camfil ist ein klassischer B-to-B-Anbieter. Das Sortiment umfasst Filter für Lüftungsanlagen ebenso wie Rauchabscheider und Gasturbinenfilter, vor allem für Industriebetriebe. Und Luftreiniger. In der Pandemie werden sie von jetzt auf gleich zu einem populären Produkt. Für Unternehmen gibt es schlimmere Überraschungen.
Im Fall von Camfil allerdings bedeutet sie eine kleine Revolution. Gefragt sind vor allem mobile Geräte, „Camcleaner“ genannt, die es in Industrie-Ausführung gibt und als „City“-Version für Büros und Wohnungen. Camfil hat sie vor fünf Jahren ins Programm genommen, mit überschaubarem Erfolg: Umsatzanteil etwa ein Prozent. „Wir hatten Mühe, sie an den Mann zu bringen“, bestätigt Wall-Pilgenröder.
Inzwischen tragen die einstigen Ladenhüter in Deutschland fast zweistellig zum Umsatz bei. Das liegt zum einen an Großaufträgen wie dem von Tönnies. Nach einem massiven Corona-Ausbruch stattet der Fleischverarbeiter seine komplette Produktion am Hauptsitz Rheda-Wiedenbrück mit Luftreinigern aus, die so genannten Reinraum-Standard erfüllen – sie säubern die Luft nahezu vollständig von Partikeln und Viren. Der Lieferant: Camfil. Auch andere Wirtschaftszweige haben Bedarf, von Flughäfen über Hotels bis zu Anwaltskanzleien. Und dann natürlich: Kliniken, Arztpraxen, Schulen.
Camfil landet über Nacht im B-to-C-Geschäft
Zum anderen nehmen Anfragen von Privatleuten zu, die das Infektionsrisiko in Büro, Kita oder Wohnung reduzieren wollten. Über Nacht ist Camfil so im B-to-C-Geschäft gelandet. Das hat Folgen: „Wir mussten unser Marketing neu ausrichten.“ Wall-Pilgenröders Team intensiviert das digitale Marketing, gestaltet Landing Pages und entdeckt Lifestyle- und Gesundheitsformate. „Klassische Zeitschriften, Sonderbeilagen – Medien, die wir vorher nie bedient haben.“ Auch die Handelskette wird neu aufgesetzt und ein mehrstufiger Vertrieb über Fachhändler bis zum Endkunden etabliert.
Da sich schon früh für Herbst und Winter ein größerer Bedarf abzeichnet, begann Camfil bereits im Juli, seine Lieferketten abzusichern. Wöchentlich schaltete sich eine globale Task Force zusammen und beriet:
- Bei welchen Bestellungen müssen wir schon jetzt nachlegen?
- Wie können sich Produktionsstätten untereinander aushelfen?
- Wo holen wir uns einen zweiten Lieferanten als Backup rein?
Mehr Personal, längere Lieferzeiten
„Unsere größte Sorge war, dass Rohstoffe knapp werden und Gerätehersteller nicht liefern können“, sagt Wall-Pilgenröder. Auch die Produktion wird umstrukturiert und, wo möglich, Personal aufgestockt. Trotzdem steigt besonders bei Hepa-Filtern die Lieferzeit, teilweise auf mehrere Wochen.
Die Geschäftsführerin steht vor der schwierigen Aufgabe zu entscheiden, welche Kunden das Unternehmen zuerst beliefern soll. „Wir priorisieren unter Vertriebs- und unter Gemeinwohlaspekten“ – etwa, wenn es darum geht, bei Pharma-Unternehmen die Produktion zu sichern.
Design sollte beim Kauf zweitrangig sein
Auch die Konkurrenz schläft nicht. „Der Markt ist groß im Moment. Wir sehen Anbieter, die wir vorher nicht gekannt haben“, sagt Wall-Pilgenröder. Verbrauchern empfiehlt sie, beim Kauf nicht nach Design zu gehen, sondern auf das „Herzstück“ zu achten, den Filter. Mit Hepa-13 oder -14 sei man auf der sicheren Seite – „je höher die Zahl, desto größer der Abscheidegrad der Viren“.
Ob der Bedarf an Luftreinigern anhält, kann derzeit niemand sagen. „Wir vermuten, dass die Nachfrage zurückgeht, sobald die ersten Impfungen einsetzen.“ Allerdings könnte der Bedarf über dem Niveau vor der Pandemie liegen, weil so viel über das Thema Saubere Luft diskutiert worden ist.
Lohnt sich ein dauerhaftes B-to-C-Geschäft?
Camfil steht nun vor der Entscheidung, ob das Unternehmen dauerhaft an Endverbraucher verkaufen will, womöglich auch online. „Das ist nicht zuletzt eine Ressourcenfrage“, sagt Wall-Pilgenröder. So oder so ist für die Geschäftsführerin klar: „Die Pandemie hat uns einen großen Zuwachs an Bekanntheit beschert. Da wollen wir marketingtechnisch dranbleiben.“