Von Gastautoren Karel Dörner und Babak Hosseini, McKinsey & Company
Bodenbereiter für das neue Service-Spielfeld sind zwei aktuelle Entwicklungen: die rasante Verbreitung mobiler Messenger-Dienste und deren Bereitstellung von Schnittstellen für externe Anwendungen. Führende Anbieter – allen voran Google, Facebook und Apple – springen derzeit auf den Zug, um ihre Kunden dort abzuholen, wo sie sich die meiste Zeit ohnehin aufhalten: in ihren mobilen Kommunikationskanälen. Conversational Commerce, die Kundeninteraktion mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, entwickelt sich zu einem der spannendsten Digitaltrends des Jahres 2016.
„Always on“, das Schlagwort von der ständigen Online-Präsenz moderner Konsumenten, gilt inzwischen vor allem für die Nutzung von Messaging Apps, auch Messenger genannt. Smartphone-Besitzer verbringen heute mehr als 80 Prozent ihrer Handy-Zeit in den neuen Nachrichtenkanälen. Dienste wie WhatsApp, Facebook Messenger oder iMessage machen User praktisch rund um die Uhr erreichbar – und bilden so einen idealen Anker für die Kundenansprache.
Einst gestartet als kostengünstige Alternative zur SMS, ersetzen Messenger inzwischen nicht mehr nur Mails, sondern auch immer häufiger soziale Netzwerke. Von den zehn meistgenutzten Apps weltweit fallen sieben in die Messenger-Kategorie – allen voran WhatsApp mit 900 Millionen Nutzern, gefolgt von Facebook Messenger mit 725 Millionen. Und ein Ende des Booms ist nicht in Sicht: Bis 2018 rechnen Marktforscher weltweit mit mehr als einer Milliarde neuen Nutzern. Zum Vergleich: Social Media werden im gleichen Zeitraum nur rund 400 Millionen User hinzugewinnen.
Momentan aber sind es vor allem asiatische Anbieter wie WeChat in China (600 Millionen Nutzer) und Line in Indien (220 Millionen Nutzer), die vormachen, welche kommerziellen Möglichkeiten in den Messenger-Diensten stecken: Während die meisten schon heute über Funktionen wie Bildübertragung, Ortungsmöglichkeiten und sprachgesteuerte Chat-Dienste verfügen, bieten WeChat und Line auch mobiles Bezahlen, die Einbindung von E-Commerce-Plattformen und Online-Einkäufe an, ohne dass der User seine Messaging App verlassen muss.
Neue Wege der Interaktion
Möglich wird der Rundum-Service innerhalb einer Anwendung durch so genannte „Open APIs“ – offene Programmierschnittstellen, die es externen Anbietern erlauben, Content und Dienstleistungen in die Messaging App zu integrieren. Daten können so barrierefrei ausgetauscht und weiterverarbeitet werden, ohne dass der Nutzer in eine andere Anwendung wechseln oder weitere Apps installieren muss.
Die zweite Komponente im Conversational Commerce bilden Chat Bots – Sprachroboter, die über gesprochenen oder geschriebenen Text mit Menschen interagieren. Ihre Qualität entwickelt sich derzeit rasant: Google-Studien zufolge nimmt die Präzision von Softwarelösungen zur Spracherkennung und ‑steuerung jährlich um 20 Prozent und mehr zu.
Ihre zunehmende Perfektion macht Bots zum hoch effektiven Marketinginstrument: So ermöglicht ihr Einsatz im Messenger-Dienst direkte Angebote im Kontext eines Chats oder einer Nachricht. Beispiel Restaurantbesuch: Die Konversation zweier Freunde über ein Treffen zum Abendessen kann mittels Bot-Technologie die Ad-hoc-Empfehlung einer Pizzeria in der Nähe nach sich ziehen.
Was ihre Schnelligkeit und die Bequemlichkeit für die Nutzer betrifft, könnten die sprachgesteuerten Softwareprogramme klassischen Apps schon bald den Rang ablaufen. Den Unternehmen wiederum helfen Chat Bots, Kosten zu sparen, ohne dass der Service leidet. Zumindest Standardanfragen lassen sich so unmittelbar bearbeiten und Angebote automatisiert platzieren. Marketingstudien sehen im kommerziellen Einsatz von Bots bereits einen aufkommenden Megatrend, der nach dem Siegeszug von Internet und Smartphone den nächsten großen Entwicklungsschub im E-Commerce auslösen könnte. Sicher ist schon heute: Für Unternehmen ergeben sich daraus ganz neue Möglichkeiten des Marketings und der Kundeninteraktion.
Bequemlichkeit wird siegen
Die Vorteile von Conversational Commerce für Unternehmen gegenüber den bisherigen Möglichkeiten der Kundeninteraktion liegen auf der Hand: Durch die offenen Schnittstellen entfallen die Hürden zusätzlicher App-Installationen; entsprechend erhöht sich die Reichweite von Marketingmaßnahmen. Mit Hilfe von Bots lassen sich Services individuell auf das Kundenbedürfnis im jeweiligen Kontext zuschneiden. Zudem kommen Werbe- und Dienstleistungsangebote aufgrund personalisierter Echtzeitinformation schneller und zielgerichteter an. Schließlich hilft der Einsatz der Sprachensoftware, Kosten zu sparen und zugleich wertvolle Kundendaten zu generieren.
Die Kunden erhalten im Gegenzug „on demand“ Zugang zu maßgeschneiderten Dienstleistungen und Angeboten. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist indessen die Bereitstellung ihrer Daten und persönlichen Informationen – auch solchen, die in privater Konversation mit Freunden und Familie entstehen. So hat Google bereits angekündigt, die Nachrichten in seiner neuen Messaging App „Allo“ grundsätzlich unverschlüsselt zu lassen, damit die künstliche Intelligenz des Dienstes zur Anwendung kommen kann, um beispielsweise Restaurants empfehlen zu können.
Meldungen wie diese rufen schnell Datenschützer auf den Plan – besonders in Deutschland. Doch die Erfolge der sozialen Netzwerke in den vergangenen Jahren und die aktuellen User-Zuwächse von WeChat in Asien zeigen: Für die Anwender werden die Nutzungsvorteile der neuen Dienste am Ende die Bedenken überwiegen, die mit der wachsenden Datentransparenz verbunden sind. WeChat ist schon jetzt für 600 Millionen Menschen zum Dreh- und Angelpunkt ihres mobilen Lebens geworden – trotz oder gerade wegen seiner komfortablen Zusatzfunktionen im Bereich Conversational Commerce. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis WhatsApp und andere westliche Anbieter nachziehen.
Zu den Autoren: Karel Dörner ist Partner im Münchner Büro und Leiter der europäischen Digital Initiative von McKinsey & Company. Er berät Klienten insbesondere im Bereich digitale Transformation sowie bei der Entwicklung von Online-Strategien und deren Umsetzung.
Babak Hosseini ist Projektleiter im Münchner Büro von McKinsey & Company. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen digitale Transformation und Geschäftsentwicklung sowie Start-ups.