Mit dem klassischen „Kunden kauften auch …“-Beispiel von vielen Onlinehändlern ist das Thema automatisches Marketing sicher nicht erschöpfend beschrieben, oder?
MARCUS RÜBSAM: In der Tat, denn die meisten Onlinehändler nutzen den Kontext des Konsumenten nicht, sondern schauen nur auf die reine Kauftransaktion. Ein Kollege aus Montreal hatte vor Weihnachten Scotch Whisky gekauft. Zwei Wochen später bekam er eine Mail, in dem ihm wieder Scotch angeboten wurde – allerdings das gleichnamige Klebeband. Kein gutes Beispiel. Anspruch sollte es sein, den Gesamtkontext des Kunden einzubeziehen: Was hat er in der Vergangenheit gekauft? Was macht er gerade, im aktuellen Moment? Was wird er vielleicht demnächst tun? All das bildet für uns einen „Realtime Context“. Das ist anspruchsvoll, weil ich nicht nur die reinen Transaktionen wie Click oder Payment, sondern die gesamten Kundenbewegungen auf der Website in Echtzeit beobachten muss. Denn ich will umgekehrt diesen Kontext natürlich nutzen, wenn der Kunde mit der Marke in Kontakt kommt.
Wie kann so etwas konkret aussehen?
RÜBSAM: Bisher läuft es oft so: Sie haben sich bei einem Onlinebuchhändler einen Krimi angeschaut, aber nicht gekauft. Dann bekommen Sie ein paar Tage später eine automatische Standard-E-Mail mit Buchtipps, die Sie aber womöglich gar nicht interessieren. Wäre dagegen Ihr individueller Surfkontext bei diesem Händler verfügbar, würden sie eine ganz individuelle Erinnerung erhalten: Noch Lust auf diesen Krimi? Oder auf ein anderes Buch, das in Ihr Profil passt? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass in so einem Fall die Antwortquote fünfmal höher ist als bei der Standardmail. Das ist ein Umsatzbringer, denn es ist ja ein ziemlicher Unterschied, ob sie nun zwei Prozent Conversion Rate oder zehn Prozent haben. Der US-Outdoor-Sportswear-Händler Columbia macht das schon so. So erhalten Sie dann ein paar Tage nach dem Besuch des Webshops eine Mail mit nur einem Bild – des Produkts, das Sie sich zuletzt angeschaut haben. Eine Mail, die es nur bei Ihnen so gibt.
Individualisieren in Realtime, da geht es um große Datenmengen. Der Umgang damit kann aber auch ganz schön gefährlich werden. Beim US-Retailer Target musste Mitte 2014 der CEO gehen, weil die Daten von über 100 Millionen Kunden gestohlen worden waren …
RÜBSAM: Einem bekannten asiatischen Elektronikhersteller haben wir geholfen, die Daten zusammenzuführen, die sie überall hatten, von ERP bis CRM. Aber wir haben auch gesagt, wenn ihr eure Kunden wirklich besser verstehen wollt, braucht ihr nicht nur Tools auf euren Webseiten, die das Kundenverhalten in Realtime registrieren. Sondern ihr müsst eure Kunden auch erlauben lassen, diese Daten zu nutzen. Wenn ihr die Daten einsetzt, müsst ihr sicher sein, dass der Konsument das auch will. Zusammen mit unserem Partner vor Ort haben wir für den Elektronikhersteller dann eine Lösung eingerichtet, die bei jeder digitalen Transaktion nachfragt, ob und wie die Daten genutzt werden dürfen. Beim Datenschutzthema hilft es uns natürlich auch, dass wir aus Europa kommen und nochmal eine ganz andere Sensibilität haben. Ich denke, unter den größten Softwareplayern gehören unsere Richtlinien zu den striktesten.
Muss man, wenn es um Kundenverhalten geht, nicht auch externe Daten, etwa aus der Marktforschung, einfließen lassen?
RÜBSAM: Zum einen machen wir das schon fast, denn letztlich schauen wir uns ja nicht nur die nackten Transaktionsdaten an, sondern erfassen die Situationen, also das Umfeld, unter denen sie entstehen – das wäre dann Situative Behavioral Marketing. Zum anderen sind viele dieser Daten für das, was wir vorhaben, meist zu alt. Vier, acht, zwölf Wochen alte Marktforschungs-Zahlen helfen uns nicht wirklich. Vor allem, wenn es um mobile Geräte geht. Auch wenn die Daten anonymisiert werden, kann ich ja aus ihnen beim mobilen Gerät einiges erkennen: Gibt es Verhaltensmuster, Orte, Inhalte, Kombinationen daraus, die auffällig sind? Matche ich das dann mit soziodemografischen Daten, die durchaus auch aus der Marktforschung stammen können, komme ich dem realen situativen Kundenverhalten schon sehr nahe. Viel näher als mit jedem Cookie-Pool oder IP-Adress-Crack. Und dann kann ich auch Voraussagen über Kundenverhalten treffen und den Kunden dann noch besser bedienen.
Wie sieht es mit weiteren Schnittstellen nach außen aus? Zu Online-Vermarktern oder gar in die Welt der klassischen Kampagnen?
RÜBSAM: Wir positionieren uns mit unserer neuen Lösung SAP hybris Marketing als Daten-Gate. Wir bringen die Daten zusammen, wir kontextualisieren die Daten und wir haben sogenannte „Optimization Decision Engines“, die die Integration mit Advertising Plattformen, Social Media Plattformen und E-Mail-Marketing-Service-Providern ermöglichen. Wir fokussieren uns weniger auf die einzelnen Kanäle, sondern wir sehen unsere Lösung als Brain des Marketers, weil sie ihm kontextualisierte Kundeninfos für sein „Ökosystem“ bereitstellt. Hätten klassische Medien wie Radio oder auch TV die Technologie, wären natürlich auch etwa Personalized TV-Ads möglich. Sie würden auf Sky in der Pause des Fußballspiels dann andere Werbung sehen als ich. Mit Turn, einem unserer Partner in den USA, machen wir das bereits. Da gibt es einzelne TV-Kanäle, die auf unsere kontextualisierten Daten zugreifen können und in den Werbepausen personalisierte Spots schalten, die auch schon individualisierte Angebote enthalten.
Wie geht es in Zukunft weiter?
RÜBSAM: Durch das Contextual Marketing wird sich im Zusammenspiel mit unserer neuen Lösung aus meiner Sicht der gelernte Prozess beim Marketer umdrehen. Ich definiere künftig Engagement Prozesse, die ich mit meinem Kunden haben will. Sicher gibt es auch in Zukunft klassisch geplante Standard-Kampagnen, also Produktlaunches oder CeBIT-Einladungen. Es wird aber vor allem hunderte Kampagnen geben, die allein aufgrund eines Triggers exekutiert werden, der sich aus dem Kundenverhalten ergibt. Wir glauben aber nicht, dass, nur weil wir eine neue Idee haben, sich plötzlich die Investitionen in Media dramatisch ändern werden. Außerdem gibt es Data Scientists und datengetriebenes Marketing schon länger in den Unternehmen. Daher muss sich auch das Berufsbild des Marketers nicht ändern. Er kann aber mit den kontextuellen Daten nun eigentlich das machen, was er als Marketer laut Pepper schon vor zwanzig Jahren hätte machen sollen: Individuell auf den einzelnen Kunden eingehen. Das gibt es im Markt bisher in dieser Form nicht.
Welchen Einfluss hat das Internet der Dinge?
RÜBSAM: Schon jetzt ist ja viel möglich. Nehmen Sie BMW, wenn Sie da in die Werkstatt kommen, wissen die schon, ob und was an Ihrem Auto defekt ist und wie viel Liter Sie noch im Tank haben. Die rufen Sie auch an, wenn die Bremse vorn hakt und schicken Sie in die nächste Servicewerkstatt. Oder das Lenkrad, das wackelt, wenn das Auto merkt, dass der Fahrer müde wird. Die Fahrzeugdaten gehen an die Contextual Engine – im Idealfall natürlich die von SAP – und die kann das dann mit einer Rabatt-Aktion von Starbucks verknüpfen, zehn Prozent Nachlass auf den Espresso in der nächsten Filiale, die in zwei Kilometern rechts kommt. Das ist ein Beispiel für Mehrwert. Den muss ich bieten, sonst bekomme ich die Daten vom Kunden nicht. Scotch-Whisky-Liebhabern Klebeband anzubieten, hat dagegen null Mehrwert.