Herr Rätsch, Brand und Sales sind zwei Termini, die gerade in der Werbewelt selten zusammen gehören. Wie bringen Sie das zusammen?
Christian Rätsch: Das halte ich für ein Missverständnis von Brand. Brand hatte immer die Aufgabe Bindungsfähigkeit herzustellen und als Türöffner beim Kunden zu fungieren. Durch die Digitalisierung hat die Marke ihre Nähe zum Vertrieb wieder gefunden. Brand-Punkte und Sales-Punkte verschmelzen zunehmend miteinander. Das ist keineswegs ein Widerspruch.
Viele Marken machen doch gar keinen Vertrieb und wenn, dann B2B.
Nein, dem möchte ich widersprechen. Bei Saatchi & Saatchi haben wir mit Saatchi X eine Abteilung, die die Marke am POS inszeniert und damit Abverkäufe treibt. Und das ist nur das Thema stationärer Handel. Im digitalen Bereich kann aus jedem Kontaktpunkt ein Lead oder Verkauf entstehen.
Werden deshalb mehr Marken direkt an die Endkunden verkaufen?
Ja. Ich glaube, dass sich völlig neue Vertriebskanäle auftun. Denken Sie an ein Beispiel wie Pampers, die eine Kommunikationsplattform für Mütter inszeniert haben und natürlich gibt es dort einen Button: „Produkte nachbestellen“. So gewinnt Pampers die Hoheit über die Leads. Ein anderes Beispiel ist Coca-Cola. Die Individualisierungskampagne „Mach Dir Freude auf“ kann ja nur die Marke leisten und nicht der Händler. Es wird in Zukunft noch viel mehr Cases geben, die einen direkten Verkaufskontakt haben. Das muss aber nicht bedeuten, dass die Marken physisch in den Handel vordringen in Form von PopUp-Stores oder ähnlichem.
Diese beiden Beispiele sind grundsätzlich interaktive Formate. Wie verhält sich das bei linearem TV?
Das wird zukünftig auch für diese Kanäle gelten. Die Antwort heißt natürlich Second Screen. Auch durch diese Entwicklung rücken Markenbotschaft und Vertrieb enger zusammen. Ich finde, das merkt man heute schon. Wie viele Online-Händler schalten inzwischen TV-Werbung?
Was bedeutet dieser Paradigmenwechsel für die Werbung selbst?
Werbung muss derjenige teuer bezahlen, der nicht kreativ ist. Die kreative Idee ist noch viel wichtiger geworden als früher, denn wenn sie gut ist, dann wird sie von den Menschen im Netz weitergetragen. Ich sehe hier zwei Bereiche, nämlich Unterhaltung und Service. Man muss Kommunikation heute als Disziplin mit eigenem Qualitätsanspruch begreifen. Das kann so weit gehen, dass diese Form der Kommunikation gesucht wird und dass die Menschen sogar bereit sind, in bestimmten Bereichen dafür zu bezahlen.
Haben Agenturen wie Saatchi & Saatchi diesen Mechanismus heute verstanden?
Unabhängig von uns selbst muss man doch feststellen, dass ein Gutteil der Onlinewerbung nervt. Das gilt sehr stark für mobile Werbung aber auch für vieles, was im Web geschieht. Und ich glaube das hat mit einer falsch-verstandenen Daten-Hörigkeit zu tun. Da sind jede Menge Dienstleister im Markt unterwegs, die einen Scheinerfolg propagieren, den die Kunden gerne annehmen. Daher neigen die Werbungtreibenden dazu, ihr Geld eher dort auszugeben, als in Bereichen, bei denen der Ausgang eher ungewiss ist. Das führt zu einer Art von „Digital Stalking“. Das ist die Schwäche von Big Data. Verhaltensprognosen, die auf Daten aus der Vergangenheit basieren, sind langweilig. Der Mensch wird konfrontiert mit etwas, was er bereits kennt. Das ist weder unterhaltsam noch leistet es eine Hilfestellung. Das ist eine Missachtung seiner echten Interessen. Big Data fehlt meistens der Kontext. Selbst Amazon kriegt das mit seinem enormen Datenpool nicht wirklich gut hin. Schlechtes Retargeting schadet auf Dauer der Marke.
Aber weshalb sollten sich Big Data und Service widersprechen? Bei der Kenntnis über den Nutzer fängt doch der Service an.
Richtig, aber hier springen die meisten Auftraggeber zu kurz und feuern pauschale Antworten ab. Es ist sehr schwierig, für jeden möglichen Individualfall eine Antwort vorzuhalten. Wenn es gelingen würde, Big Data und Kreativität zu kombinieren, dann wäre das die perfekte Mischung und die Kommunikation könnte den Menschen wieder überraschen. Und um auf die vorherige Frage zurück zu kommen: Natürlich springen auch Agenturen zu kurz. Das fängt ja schon damit an, dass Auftragsbereiche, die für eine solche Kommunikationsform zwingend zusammen gehören, in getrennten Auftraggebermodellen liegen. Hier muss integrierter gedacht werden.
Befeuert diese Problemstellung einen Trend zum Inhousing oder zur Inhouseagentur?
Nein. Ich kenne solche Modelle natürlich auch aus meiner Zeit bei der Deutschen Telekom. Auch interne Agenturen schleifen sich ab. Kreativität entsteht durch Perspektivwechsel. Wer immer nur für eine Marke arbeitet, wird irgendwann den kreativen Anspruch verlieren. Das soll aber nicht bedeuten, dass zum Beispiel ein Servicethema wie „Telekom hilft“ oder auch regelmäßiges Content-Marketing nicht in einer internen Abteilung angelegt wird. Das halte ich für sehr sinnvoll.
Stichwort Content-Marketing. Wie weit ist eine Agentur wie Saatchi & Saatchi in diesem Bereich?
Ich glaube, das Thema wird stark wachsen und alle Agenturen – auch wir – müssen sich intensiv damit auseinandersetzen. Content Marketing ist ja genau der Beleg für meine These: Die Kommunikation wird eigenständig. Ein tolles Beispiel ist der Mercedes Van als neuer Mitarbeiter. Christian Ulmen geht in die Unternehmen und arbeitet einen Tag mit. Wer das überlebt, bekommt einen Mercedes Van. Das ist eine Kampagne die passt. Das Produkt ist inszeniert, aber auf eine sehr unterhaltsame Weise. Da ist der Marke Mercedes und ihrer Agentur ein guter Wurf geglückt. Ein anderes Beispiel wäre von Advocard der Streitatlas und der Streitlotse. Das ist gut gedacht. Es geht ja im Ansatz sogar gegen das eigene Produkt, denn die Plattform versucht, Streit zu schlichten. Erst wenn der Streitlotse nicht mehr hilft, kommt das Advocard-Produkt zum Zuge.
Das hört sich recht bieder und unglamourös an. Was macht so etwas mit dem Agenturpersonal bei Saatchi & Saatchi. Sind die nicht auf Dauer gelangweilt?
Es gibt unglamouröse Sachen, die ich trotzdem gut finde, so wie die Pollenwarn-App von Otriven. Das beinhaltet doch eine direkte Lebenshilfe für die Menschen. Ich finde das nicht unsexy. Ich nenne Ihnen noch ein anderes Beispiel. Unser Kunde BGH verkauft Klimaanlagen. Für ihn haben wir eine Plattform kreiert, wo der Nutzer über seine Adresse die Menge der Sonneneinstrahlung auf seinen Fenstern ablesen kann. Und je nach Hitzewert erhält er dafür einen Rabatt. Das ist keine Idee, die die Welt revolutionieren wird, aber sie ist clever gedacht und hilft. Das ist ‚Brand-driven Sales’ vom Feinsten. Marken müssen Haltung beweisen in ihrem jeweiligen Segment.
Christian Rätsch spricht auf dem Jahreskongress Digital Marketing in Mainz am 30. Juni 2015.