Professor Hartmann, wir stehen hier unter immensem Druck, ein individuelles, nutzwertiges, unterhaltsames, kluges Interview zu führen. Denn sowohl fachbezogene Fragen als auch Antworten kann man locker über ChatGPT generieren. Glauben Sie, Sie werden in zehn Jahren noch von Journalist*innen interviewt?
Eine Prognose, die KI betrifft, und weiter als ein Jahr in die Zukunft blickt, steht auf wackeligen Beinen. Das hat uns das Jahr 2022 gezeigt, das, angelehnt an die Einschätzung von Sam Altman, dem CEO von OpenAI, wahrlich eine Kambrische Explosion generativer KI war. Ob ein KI-basiertes System bis 2033 ausreichend autonom und kreativ ist, um selbstständig Interviews führen zu können, wird sich zeigen. ChatGPT hat bewiesen, dass KI sich bereits jetzt grundsätzlich als Gesprächspartnerin eignet, die Millionen Menschen binnen kürzester Zeit erreichen kann.
Radiologin werden ist auch kein sicherer Berufswunsch mehr, oder?
Klar ist, Berufe, die kognitive Arbeit erfordern, werden sich in den kommenden Jahren stark verändern. Das schließt die Medizin, inklusive der Radiologie, ein. Meine Hoffnung ist, dass KI nicht ausschließlich genutzt wird, um Berufe zu rationalisieren, sondern um beispielsweise mehr Menschen den Zugang zu besserer Medizin und verlässlicheren Diagnosen zu ermöglichen. Gleichzeitig können administrative Aufgaben an KI ausgelagert werden. KI-gestützte Telemedizin, wie sie OnlineDoctor für digitale Hautchecks anbietet, kann helfen, dieses Ziel zu erreichen. Erst kürzlich habe ich im „Hamburger Abendblatt“ gelesen, dass OnlineDoctor nun mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland kooperiert. KI-gestützte Medizin wird bald zur Normalität werden.
Wird die Technologie unser Alltagsleben verändern?
Ja und nein. Nie hat eine KI-gestützte Technologie so viele Menschen in so kurzer Zeit erreicht. Sie bietet eine Alternative zur klassischen Suchmaske von Google. Generell stehen wir aber erst am Anfang unseres Verständnisses, welche Rolle automatisierte Dialogsysteme im Alltag spielen werden. Es sind Entwicklungsschritte nötig, um die Technologie noch nützlicher zu machen – etwa eine nahtlose Anbindung an Schnittstellen zu anderen Programmen oder ein Zugang zu tagesaktuellen Nachrichten. Ich hoffe, dass es bald Open-Source-Alternativen zu ChatGPT gibt und der Wettbewerb generativer Dialogsysteme zunimmt. Das wird sich positiv auf das Nutzungserlebnis und die Qualität auswirken.
Noch ist ChatGPT kostenlos und werbefrei. Das könnte sich ändern. Muss sich Google warm anziehen und mittelfristig um User und sein werbefinanziertes Geschäftsmodell fürchten?
Wenn sich interaktive Dialogsysteme wie ChatGPT als neuer Zugang zu Informationen durchsetzen, wird das zweifelsohne Implikationen für das klassische Suchmaschinenmarketing und die klassischen Monetarisierungsmechanismen haben. Es ist zum Beispiel denkbar, dass Werbebanner oder auch gesponserte Antworten in den Dialogverlauf mit ChatGPT eingebettet werden. Der Google-CEO Sundar Pichai ist jedenfalls alarmiert, wie kürzlich die „New York Times“ berichtete. Google muss auf den potenziellen Wettbewerb durch ChatGPT reagieren, dessen Mutterfirma OpenAI kürzlich eine weitere Milliardenfinanzierung von Microsoft erhalten hat.
Nehmen wir an, ich wäre CMO eines weltweit agierenden FMCG-Unternehmens: Was bedeutet ChatGPT für mein Marketing?
Generative KI wird das Marketing fundamental verändern. Das betrifft nicht nur generative Dialogsysteme wie ChatGPT, sondern auch generative Bildmodelle wie Stable Diffusion oder Dall-E2. Die synthetisch generierten Inhalte dieser Modelle haben eine Qualität erreicht, die sich meist nicht von menschlich erstellten Inhalten unterscheiden lässt. In einem Forschungsprojekt haben wir die Qualität von 13 sogenannten Diffusion-Modellen zur Bildgenerierung verglichen. Ein Ergebnis: künstlich generierte Bilder konnten sogar höhere Klickraten erzielen als ein vergleichbares professionelles Werbefoto von einer Stockphoto-Seite. Während uns das Stockphoto rund sieben Euro gekostet hat, liegen die Kosten für die synthetischen Bilder im Cent-Bereich.
Der Wandel hin zur generativen KI wird sich auch auf den Wettbewerb um Talente auswirken. Plötzlich konkurrieren Sie als CMO eines FMCG-Konzerns beim Aufbau Ihres Marketing-Teams mit Tech-Start-ups um rare KI-Talente. Außerdem werden Kooperationen mit der Wissenschaft wichtiger: Sie als CMO und Ihr Unternehmen müssen am Puls der technologischen Entwicklung bleiben. Das Feld entwickelt sich rasend schnell.
Wie ist das denn rechtlich: Kann ChatGPT in allen Ländern einfach so eingesetzt werden oder setzt der Datenschutz Schranken?
Ich bin kein Anwalt. Deswegen kann ich das nicht fundiert beurteilen. Allerdings sind mir bereits zwei Klagen bekannt, die sich mit diesem Thema befassen – einerseits gegen GitHub Copilot sowie gegen Stable Diffusion von Stability AI.
Sie haben in einem wissenschaftlichen Projekt herausgefunden, dass ChatGPT grün wählen würde und ein ziemlich linkes Ding ist. Was sagt uns das über mögliche Manipulation?
In unserem Working Paper können wir über drei Experimente mit erstaunlicher Konsistenz zeigen, dass die Antworten von ChatGPT eine umweltorientierte, links-liberale politische Orientierung reflektieren. Hierfür haben wir ChatGPT beispielsweise alle 38 politischen Thesen des Wahl-O-Mats bewerten lassen. Ergebnis: ChatGPT würde am ehesten die Grünen wählen. Im StemWijzer, dem niederländischen Äquivalent des Wahl-O-Mats, kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis: ChatGPT favorisiert die links-grüne Partei GroenLinks. Vor dem Hintergrund der millionenfachen Nutzung von ChatGPT und der Bedeutung politischer Wahlen für demokratische Gesellschaften, ist es wichtig, dass solche algorithmischen Verzerrungen aufgedeckt und öffentlich diskutiert werden.
Wir haben ChatGPT angewiesen, Fragen an Sie zu formulieren und die KI im Anschluss auch gleich um Antworten auf diese Fragen gebeten. Ist an den Antworten von ChatGPT etwas auszusetzen?
Rein sprachlich ist an den Antworten von ChatGPT wenig auszusetzen. Auch inhaltlich werden einige relevante Punkte angesprochen, die als Denkanstöße dienen können. Allerdings sind die Antworten ausschweifend, größtenteils oberflächlich und über die Fragen hinweg redundant. Dies ließe sich über gezieltes Nachfragen und die ergänzende Aufforderung an ChatGPT, stichpunktartig zu antworten, gegebenenfalls korrigieren.
Zum guten Schluss: Haben Sie einen Tipp, auf welchen Beruf ich umschulen sollte, wenn ich in 15 Jahren noch ordentlich Geld verdienen will?
Folgen Sie Ihren Interessen. Ob Sie damit Geld verdienen werden, kann ich Ihnen nicht garantieren. Aber immerhin haben Sie dann Freude an dem, was Sie tun.
Zur Person
Jochen Hartmann, 33, ist Professor für Digital Marketing an der TUM School of Management, der betriebswirtschaftlichen Fakultät der TU München. Eigentlich wollte Hartmann Journalist werden, hat sich dann aber für die Wissenschaft entschieden – was goldrichtig war, denn er hat für seine Forschungsarbeit schon etliche Awards gewonnen. Derzeit beschäftigt sich der Marketingforscher mit interdisziplinären Themen an der Schnittstelle von Management und Technologie, darunter generative KI, Diversität in der Werbung, Mensch-Computer-Interaktion oder die Fairness algorithmischer Entscheidungen.