Es sind dramatische Tage im politischen Deutschland. Damit, dass FDP-Chef Christian Lindner die Reißleine zieht und die mühsamen Jamaika-Sondierungen abbricht, war nicht zu rechnen. Auch wenn – wie immer – hinterher manche meine, es vorher geahnt zu haben. Lindners Aktion ist ungewöhnlich mutig und ungewöhnlich riskant für ihn persönlich, für seine Partei und für das Land. In einer negativen Lesart kann man ihm vorwerfen, vor der Verantwortung zu fliehen. Eine positive Lesart kann sein, dass er sich und seine Partei in einer von Angela Merkel angeführten Koalition nicht bis zur Unkenntlichkeit verbiegen lassen will. An dieser Stelle schönen Gruß an die Sozialdemokraten.
FDP im Wahlkampf-Modus
Für die FDP aber auch die übrigen Möchtegern-Jamaikaner wird in den kommenden Tagen viel davon abhängen, wie sie kommunizieren. Der FDP fällt es offenbar leicht, schnell wieder in den Wahlkampf-Modus umzuschalten. Der Spruch „Lieber nicht regieren als falsch“ sitzt und prangte in Windeseile über dem Facebook- und Twitter-Profil. Im Social Web finden die Äußerungen Lindners, wie schon im Wahlkampf, das größte Publikum. Auch viele der Kommentatoren sind mit seiner Entscheidung einverstanden. Wäre das deutsche Wahlvolk deckungsgleich mit den Facebook-Nutzern, wäre die Sache für den alerten FDP-Chef wohl ein leichtes Spiel.
Grüne bedanken sich bei Merkel und Seehofer
Auch die Grünen waren schnell mit einer Video-Botschaft bei der Hand. Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir erklären Seit an Seit in staatstragender Manier, dass zuerst das Land komme und dann erst die Partei. Dabei vergessen sie nicht, namentlich Angela Merkel und auch Horst Seehofer noch ein herzliches Dankeschön nachzurufen. Ähnlich wie den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, könnte man sich die beiden auch ohne größere Hirn-Verrenkungen in der CDU vorstellen.
Einigung, so der CSU-Chef, sei „zum Greifen nahe“
Angela Merkels Erklärung vor der Menge an CDU/CSU-Funktionären klang ganz ähnlich, auch wenn sie den Grünen attestierte, „bei aller Sympathie“ einen „gewöhnungswürdigen“ Verhandlungsstil zu pflegen. Mutmaßlich meinte sie damit nicht das Duo Göring-Eckardt/Özdemir. Zur FDP sagte Merkel, diese sei „sehr entschieden“ gewesen. Was die Kanzlerin womöglich als kritikwürdig ansieht, mag bei FDP-Wählern und manchen anderen gar nicht so schlecht ankommen. Sie und Seehofer erzählten, was alles hätte sein können, wo man sich schon dufte geeinigt habe, bei der Landwirtschaft zum Beispiel. Aber auch sonst. Seehofer: „In allen Themenbereichen, in denen wir unterwegs waren, hatten wir Verständigungen.“ Eine Einigung, so der CSU-Chef, sei „zum Greifen nahe“ gewesen.
Flucht ins Blame-Game
Man fragt sich als Zuschauer, ob die Parteibosse bei denselben Verhandlungen anwesend waren. Laut dem FDP-Spitzenmann Wolfgang Kubicki hat nach vier Wochen „null“ auf dem Tisch gelegen. Lindner erklärte: „Die vier Gesprächspartner hatten keine gemeinsame Vorstellung und keine Vertrauensbasis.“
Für die Grünen und CDU/CSU ist die Flucht ins Blame-Game der einfache, der offensichtliche Weg. Lindner als Buhmann, der die Verantwortung scheut und sich davonmacht, obwohl das Ergebnis doch angeblich „zum Greifen nahe“ ist. Die Frage ist nur, ob ihnen das jemand abkauft. Ob das nicht eine viel größere Inszenierung ist, als jene, die man nun teilweise der FDP vorwirft. War das Bild, das die Jamaika-Sondierungen abgegeben haben wirklich das, dass man „zum Greifen nahe“ an einer Lösung ist? Oder nicht doch eher, dass nach zähem Ringen bestenfalls teure Formel-Kompromisse stehen, wie es Lindner ausmalte?
Falls es stimmen sollte, dass man ganz, ganz knapp vor einer Einigung war und der nassforsche Herr Lindner plötzlich und unerwartet hingeschmissen hat, dann sollten CDU/CSU und Grüne anfangen, diese Lesart besser und glaubhafter zu kommunizieren. Sonst profitiert bei einer möglichen Neuwahl möglicherweise vor allem die FDP. Das Blame-Game zu spielen ist naheliegend und relativ leicht. Unter Umständen steht man am Ende aber selbst blamiert da.