Die amerikanische Polling Industrie hat das Bild des komplett durchleuchteten Meinungstrends und der nahezu sicheren Prognostizierbarkeit kultiviert. In wöchentlich dutzenden repräsentativen Meinungsumfragen von den Cable Networks, den Gallups und Rasmussens und darauf aufbauende Meta-Polling-Systemen wie RealClearPolitics machten scheinbar jeden Ausschlag der öffentlichen Meinung transparent und identifizierten die Befindlichkeiten und relevanten Einstellungstreiber jeder Subzielgruppe.
Dann kam die Wahl, und gleich zwei Mythen sind arg angekratzt: der Mythos der exakten Wahlprognosen und der Mythos der exakten Marktsteuerung durch Big Data.
Was kann man aus Marketing-Sicht aus all dem lernen?
Meinungs-Dynamiken sind nicht exakt berechenbar:
Das Bild von der exakten Messbarkeit und Steuerung basiert auf grundlegend problematischen Vorannahmen. Wahlentscheider (das gilt auch für Kaufentscheider) bewegen sich in dynamischen Spannungsfeldern. Ein unbewusstes psychologisches Kräftespiel bestimmt darüber, ob sie zur Wahl zu gehen oder nicht, und ob sie den einen oder den anderen Kandidaten als kleineres Übel ansehen, und ob sie sich ehrlich zu ihren Einstellungen äußern oder sozial erwünschte Statements abgeben. Wenn die Wahlforschung die „Sonntagsfrage“ stellt („Welchen Kandidaten werden Sie wählen?“), misst sie nur die Vorhersage über das Endresultat des psychologischen Kräftespiels. Diese Vorhersage bleibt aber ungewiss, denn von Woche zu Woche produzieren die unbewussten Meinungs- und Stimmungsdynamiken andere Ausschläge.
Segmentierungs-Schubladen leiten in die Irre:
Die Pollster und Big Data Marketeers basieren ihre Erklärungen und Strategie vielfach auf Segmentierungs-Labels wie rechts, links, abgehängte Unterschicht, Globalisierungsgewinner, Soccer Moms, erfolgreiche oder Latinos. Die Wähler scheinen diesen Labels jedoch zu widersprechen – ganz ähnlich wie die hybriden Konsumenten, die sich nicht mehr klar in Schubladen einordnen lassen. Gegen alle Prognosen hat Trump in Florida mehr Stimmen bei den Latinos geholt als Mitt Romney 2012. Die einkommensschwachen Schichten haben mehrheitlich für Clinton gewählt, nicht für Trump. Seinen Wahlerfolg verdankt Trump einer weißen Mittelschicht-Gruppe, die relativ gut verdient, und von der Globalisierung des Handels, gegen die Trump wettert, eher profitiert.
Stimmungen schlagen Fakten:
Trumps Kampagne hat sich bekanntlich wenig um Fakten geschert. Damit hat sie ein bewährtes Prinzip des Produktmarketings übernommen: „Facts don’t matter, perception is king.“ Produktmarketeers haben es schon immer verstanden, insbesondere komplexe Produkte mit einfachen Bildern zu erklären. Die Haushaltsreiniger-Werbung sagt nichts von Tensiden und chemischen Prozessen. Stattdessen werden kleine Männchen im Kloreiniger gezeigt, die den Kalk wegmeißeln. Was der Harnstoff im Katalysator macht, will der Kunde nicht wissen. Der Diesel-Motor hat den Touch von Blue Motion und Clean Energy.
Trump hat die Werbemärchen-Mechanik konsequent auf das Feld der Politik übertragen: „We build a wall and Mexico will pay for it!“ Mit einfachen Losungen suggeriert Trump Machbarkeit und Handlungsfähigkeit – völlig losgelöst von der Komplexität realer Hintergründe. Stimmungen schlagen Fakten.
Pull schlägt push:
Die geölte Kampagnenmaschine von Clinton hat letztlich versagt. Superstars wie Beyoncé und Jay-Z aufzufahren, die Adressen der Konzertbesucher einzusammeln, und sie am Wahltag mit dem Wahlaufruf zu kontaktieren – das scheint eine clevere Strategie zu sein. Nur leider waren die Millenials nur wegen den Pop-Stars und nicht wegen Hillary auf dem Konzert, und Detroit hat nicht genug Stimmen mobilisiert, um Michigan für Hillary zu sichern. Es zeigt sich erneut: In der Regel ist Pull im Marketing die bessere Strategie als Push.
Authentisch schlägt Marketing:
Echt zu wirken und glaubwürdig zu sein, schafft die wahre Nähe zum Wähler. Clinton ist in ihrer Kampagne letztlich zu jedem Moment der überperfekt performante Polit-Roboter geblieben. Ihre Schwäche, Schwächen nie zuzulassen und zwanghaft zu verstecken, brachte ihr die E-Mail-Affäre ein, ließ sie ihre Lungenentzündung verheimlichen, und kostetet sie am Ende Glaubwürdigkeit und emotionalen Appeal. Trump war dagegen immer Trump – auf deutsche Verhältnisse übertragen eine Art Sprüche klopfender Dieter Bohlen, der als Kanzler kandidiert. Wenn er im berühmten Access-Hollywood-Gespräch Frauen diskriminiert hat, konnte man sich darüber empören und entsetzen. Aber im Gegensatz zu Hillary, bei der man immer noch eine versteckte andere Seite hinter der Kampagnen-Fassade vermutete, hatte man bei Trump immer den unverstellten echten Trump. Und durch seine schräge Andersartigkeit im Vergleich zum stromlinienförmigen Standard-Politikertyp war der Donald immer ein Spektakel mit Talk-Value. Und Talk-Value – egal ob positiver oder negativer Talk – ist in unseren Zeiten der Twitter-Aufmerksamkeits-Ökonomie ein unerlässlicher Erfolgsfaktor.
Prognose ungewiss:
Was passiert, wenn der Kampagnen-Trump die reale Verantwortung als Präsident Trump übernimmt, ist ungewiss. Diese Ungewissheit verunsichert Märkte und destabilisiert etablierte politische Systeme. Ausgang ungewiss.
Zum Autor: Dirk Ziems ist Geschäftsführer der concept m. Das Marktforschungs- und Beratungsinstitut untersucht mit tiefenpsychologischen Methoden die Motive der Verbraucher. Ein Tätigkeitsschwerpunkt ist die globale Forschung zu Automärkten und Automarken – in den Märkten Europa, China und USA.