Big Data weckt die Hoffnung auf ein perfektes Marketing-Match: Jeder Cent wird ohne Streuverlust investiert. Was sagt denn heute die reale Praxis….
THORSTEN HENNIG-THURAU: Die Marketingpraxis steht heute irgendwo zwischen gespannter Erwartung und Frustration. Hohe Erwartungen haben viele, die mit Big Data bisher noch nicht viel anzufangen wussten. Vor dem Hintergrund der Omnipräsenz des Begriffs im medialen Diskurs versprechen sie sich mindestens den nächsten Quantensprung. Wie so vielen von uns ist ihnen aber gar nicht klar, was Big Data heißt. Damit ist aber offen, ob sie denn tatsächlich etwas Nützliches damit anfangen können. Frustriert sind all jene, die sich mit Euphorie auf das Thema stürzten und nun feststellen, dass sich aus welchen Gründen auch immer kein wirklicher Nutzen einstellt — trotz erheblicher realer Investitionen. Euphorisch sind wiederum alle, deren Geschäftsmodell eng mit der intelligenten Analyse von großen Daten verflochten ist. Und natürlich die Dienstleister, die sich das Thema auf die Fahnen geschrieben haben und damit gutes Geld verdienen.
…und was steht einer Umsetzung im Wege? Sind es eher technische oder inhaltlich-organisatorische Hürden, die es zu überspringen gilt?
HENNIG-THURAU: Hindernisse gibt es viele. Das beliebte „Haben-wir-noch-nie-gemacht“-Argument darf auch hier nicht unterschätzt werden. Klassische Markenartikler haben beispielsweise kaum Zugriff auf individuelle Kaufentscheidungen und Kundenprofile. Sie betrachten ja traditionell den Handel und nicht den gemeinen Konsumenten als Kunden. Neben dieser kulturellen Frage stoßen Unternehmen, die aus Big Data und den Profilen ihrer Kunden das „nächste große Ding“ ableiten wollen, häufig auf zwei große Herausforderungen: Das Integrations- und das Mengenproblem. Die intelligente Auswertung von Datenstrukturen ist daran geknüpft, verschiedenen Datenquellen zusammenzuführen, um für einen einzelnen Kunden Vorkauf- und Kommunikationsverhalten mit Kaufentscheidungen zu verbinden. Das ist wahnsinnig schwierig. Denn viele Daten gehören Unternehmen gar nicht oder sie haben nur bedingt Zugang. Selbst Twitter muss seine eigenen Tweets kaufen, wenn man die analysieren will. Gerade in den heutigen Zeiten der bedrohten Privatsphäre sehen Kunden keinen Grund, freiwillig Unternehmen ihre Informationen über das notwendige Maß hinaus zur Verfügung zu stellen. Es reicht ja schon, dass die NSA und andere Geheimdienste darin herumschnüffeln. Und dann ist da noch das Mengenproblem: Big Data verlangt erhebliche Investitionen sowohl in Server- und Rechnerkapazitäten als auch in Analyse-Programme. Ob sich das wirklich auszahlt muss sorgfältig abgewogen werden. Das hat dann auch viel mit dem Werte-Fit von Big Data zu tun – ein kundenorientiertes Unternehmen kann mit Big Data tatsächlich seine Kunden besser verstehen und sich somit große Wettbewerbsvorteile verschaffen. Wird sich dagegen auf Kostenvorteile und Effizienzgewinne konzentriert, sind die Vorteile durch Big Data überschaubar bis nicht existent.
An welchen Stellen sind in den vergangenen zwölf Monaten reale Durchbrüche respektive Resultate zu beobachten? Womit dürfen wir in den kommenden Monaten rechnen?
HENNIG-THURAU: Zunächst einmal bin ich immer noch überrascht darüber, wie wenig Unternehmen das Wissen, das sie über mich als Kunden vorliegen haben müssten, zu meinem Vorteil einsetzen. Wer bietet mir denn heute irgendwelche auf mich aus meiner Konsumhistorie zugeschnittene Angebote oder Zusatznutzen? Die Deutsche Bahn oder die Lufthansa sammeln zwar alle Informationen über meine Käufe und Reiserouten. Wozu bleibt für mich jedoch unklar. Ich kann zumindest bei Buchungsvorgängen keinen Lern-Prozess beobachten – ich werde jedes Mal behandelt wie ein Mr. Anonymous. Selbst bei den meisten Onlineanbietern beschränkt sich der Erkenntnisgewinn aus Kundendaten auf das Zusenden von Gutscheinen oder Flyern über die Produkte, die ich gestern schon gekauft habe. Unabhängig von meiner persönlichen Frustration über diesen Zustand bin ich überzeugt, dass Big Data vor allem in zwei Bereichen dem Kunden Nutzen stiften kann – bei der Individualisierung der Services, etwa bei Zeitungen und Zeitschriften und der channel-übergreifenden Integration von Informationen. Warum bekomme ich bei bei Spiegel Online auch beim meinem tausendsten Besuch immer noch die gleichen Inhalte zu lesen wie andere Besucher? Das muss alles individueller werden. Facebook und Google machen das ja mustergültig vor. Und dann müssen es die Multichannel-Anbieter hinbekommen, ihre Kanäle besser zu verbinden. Wenn ich bei Karstadt online viel Spielzeug einkaufe, muss das bei meinem nächsten Besuch doch Konsequenzen haben. Die Frage der channel-übergreifenden Integration der Datennutzen betrifft nicht zuletzt auch mobile Kanäle. Hier muss sich in Sachen der Erkennung von Kunden Vieles zum Besseren entwickeln – und zwar schon aus reinem Eigennutz der Unternehmen. Denn erkannt werden möchte ich nur von Unternehmen, die Informationen nicht gegen, sondern für mich verwenden.
Die Geschäftsmodelle der großen Drei Amazon, Facebook oder Google zeigen, dass sich mit mehr Wissen enorme Erfolge einstellen können. Kann ein gewöhnliches Unternehmen hieraus ein Vorbild für eigene Aktivitäten ableiten?
HENNIG-THURAU: Definitiv! Ich würde mir wünschen, dass die vielen Journalisten und Konkurrenten, die sich über Amazons vermeintliche Dominanz beschweren, ein wenig öfter über die Ursachen des Erfolges nachdenken. Die lautet Big Data und Analysekompetenzen in der Kombination mit einer radikalen Ausrichtung an Kundenwünschen. Man kann das auch verallgemeinern: Big Data stellt nur im Zusammenspiel mit Kundenorientierung einen Wert dar! Bei Facebook ist es die radikale Personalisierung der Angebote, bei Google nicht zuletzt die Vernetzung von Daten über zahlreiche Quellen und Kanäle hinweg, um Werbekunden werthaltige Angebote machen zu können, die der räumlichen Dimension Rechnung tragen. Zusätzlich eint die drei Unternehmen die schiere Begeisterung für Experimente. Daten sind schließlich nur nicht nur einfach „da“. Sie können auch selbst gemacht werden, in dem man etwa ausprobiert und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zieht. Eine solche Experimentkultur mit der Bereitschaft, Dinge, die nicht funktionieren, wieder einzustellen, ist in deutschen Firmen viel zu wenig und selten vorhanden.
Mit dem Slogan „Flippern statt Bowlen“ umschrieben Sie ja bereits, dass die Zeiten der Einbahnstraßen im Marketing vorbei sind. Andererseits fallen an immer mehr Ecken und Enden Rohdaten an, die zur Veredelung zusammengeführt werden wollen. Was müssen Unternehmen tun, um den Spagat zwischen Schutz der eigenen (Kunden-)Daten und der notwendigen Offenheit ohne Schmerzen auszuführen?
HENNIG-THURAU: Der Schlüssel für eine solche Integration ist definitiv das Vertrauen des Kunden in die Ziele und Absichten des Unternehmens. Ohne ein solches Vertrauen wird der beste Analytiker scheitern. Das haben ganz viele Firmen nicht verstanden. Natürlich kann man versuchen, auf halblegalen und illegalen Wegen Daten zu integrieren. Das wird aber auf Dauer nicht gut gehen: Nur wenn der Kunde bereit ist, dem Unternehmen seine Identität über verschiedene Kanäle mitzuteilen und die verschiedenen Daten zusammenzuführen, lassen sich damit langfristig Wettbewerbsvorteile realisieren. Mich erinnert das, was die meisten Unternehmen in diesem Zusammenhang gerade anstellen an einen Werbespot-Klassiker der Sparkasse – Wettbewerbsvorteile durch das Verteilen von Fähnchen oder den Aufbau eines Filialnetzes. Vertrauen aufbauen ist sicherlich ein langwieriger und kostenintensiver Prozess. Es ist aber der einzige Weg, um Big Data richtig zu machen. Das gilt umso mehr, wenn Unternehmen die Nutzungsdaten von Seiten wie YouTube etc. sammeln möchten; diese lassen sich zwar einfach abgreifen, wie es die NSA offensichtlich macht. Allerdings wird es dann irgendwann – mit allem Recht der Welt – zu einem großen Eklat kommen. Der bessere und nachhaltigere Weg ist sicherlich, wenn ein Unternehmen dem Kunden einfach erklärt, was er davon hat, seine Daten freiwillig zu teilen.
Unlängst hatten Sie beklagt, dass es kaum ein Marketier den Sprung auf den CEO-Posten schaffte. Andererseits gibt es den wunderschönen Slogan „Marketing is the new finance“. Und die Prognosen, dass das Marketing den größten Anteil am IT-Budget eines Unternehmens erhält, bekräftigen vordergründig den Spruch. Fehlt es im Marketing heute daher nicht einfach an Skills, die neuen Möglichkeiten auch mit Blick auf disruptive Unternehmensstrategien zu be- und ergreifen?
HENNIG-THURAU: Ja — und zugleich Nein! Ja, da Marketing in der Tat heute viele Kompetenzen besitzt bzw. besitzen muss, die den intelligenten Umgang mit Kundendaten betreffen. Da müssen Marketingmanager und Marketingabteilungen sich fachlich weiterentwickeln. An den Universitäten tragen wir unseren Teil dazu bei. In Münster haben wir beispielsweise jetzt das Institut für wertbasiertes Marketing, das sich genau mit der Schnittstelle zur Betriebswirtschaft und den Finanzen befasst. Aber die Antwort lautet ebenso Nein, da Marketing immer mehr war und sein muss als ein Analyse- und Umsetzungsbereich. Nur das Marketing kann Unternehmen eine kundenorientierte Wertebasis geben, die sämtliche Unternehmensaktivitäten zentral beeinflussen sollte.
Was muss das Marketing künftig können, wenn im Zuge von Big Data, Digitalisierung, RTB etc. Algorithmen immer mehr Aufgaben übernehmen?
HENNIG-THURAU: An technischen und analytischen Fähigkeiten geht natürlich kein Weg vorbei; ihnen kommt sogar in Zukunft eine noch viel größere Rolle zu. Aber Marketing muss vor allem dafür sorgen, dass Big Data im Sinne des Kunden genutzt wird und ihm Nutzen schafft – dass der Kunde hier wie überall im Mittelpunkt steht. Nur wenn das der Fall ist, wird der Kunde auch Vertrauen in das Unternehmen entwickeln und die für eine intelligente Analyse notwendigen Informationen zur Verfügung stellen.
Mehr über Big Data lesen Sie im Interview mit Prof. Dr. Thorsten Hennig-Thurau in der aktuellen absatzwirtschaft-Sonderausgabe zur Dmexco 2013. Hier geht es zur Heftbestellung.