Gemischtes Doppel: Jörn Sieveneck und Gabriel Rath 

In der Ostsee leben Jörn Sieveneck und Gabriel Rath nicht nur ihre Leidenschaft für das Eisbaden aus, sie leisten mit dem Kollektiv „die Eisbademeisters“ auch einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft.
Eisbaden_Lowres_78
Bibbern für soziale Wärme: Gabriel Rath (links) und Jörn Sieveneck haben die vierte Saison der Eisbademeisters eingeläutet. (© Alexandra Polina)

Es ist Anfang November, trotzdem strahlt die Sonne über dem Warnemünder Ostseestrand. Ideales Wetter für einen Bummel auf der Promenade, nicht jedoch fürs Eisbaden. Jörn Sieveneck und Gabriel Rath stört das nicht. Sie sind bester Laune, als sie den vereinbarten Treffpunkt erreichen, das Wellnesshotel Neptun. Vor wenigen Tagen haben sie die vierte Saison der „Eisbademeisters“ eingeläutet und freuen sich wie Schneekönige auf die kommenden, hoffentlich klirrend kalten Tage.  

Beide verkörpern das Bild des modernen New Workers. Sieveneck lebt und arbeitet als Freelancer unter anderem aus seinem Van heraus, hostet mehrere Podcasts, ist YouTuber und Vizepräsident des Marketing Club Rostock. Rath arbeitet im Bereich Organizational Development beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband, hostet den Podcast „New Work Chat“, hält Keynotes und rappt. Viel Gesprächsstoff also für ein Interview, bevor sich beide am Turm 3 in die Fluten stürzen. Es wird ein Gespräch über Nächstenliebe, soziales Marketing und schlingernde Karrierewege.

Herr Rath, Herr Sieveneck, die Wassertemperatur beträgt heute 11,6 Grad, zwei Grad wärmer als im Schnitt in dieser Zeit. Zu warm für Sie? 

Gabriel Rath: Wir machen das Ganze nicht nur für uns. Die ganze Aktion richtet sich vor allem nach außen. Auf Bildern sieht man die Wassertemperatur ja nicht. Aber alles, was zweistellig ist, hat nichts mit Eisbaden zu tun. 

Jörn Sieveneck: Für mich ist das Wasser noch zu warm. 

Die „Eisbademeisters“ haben bereits eine große Community. Wie pflegen Sie diese? 

JS: Auf Instagram versuchen wir, Menschen zum Mitmachen und Spenden zu bewegen. Dann hast du Leute, die aus Dresden oder Flensburg eine Mail schreiben und nachfragen, wie wir das Eisbaden etabliert haben. Wir helfen da gern. Unser Ziel ist es, in allen größeren Ostseestädten einen Ableger der Eisbademeisters zu haben, der für den guten Zweck Geld sammelt.  

GR: Man kann überall eisbaden. Auch in Berlin gibt es die Eisbademeisters, die gehen in einen See … 

JS: Wir kennen Menschen im Münsterland, die das machen. Bekannte von mir leben in Oslo, die gehen da ins Wasser und posten Fotos von sich auf Instagram und vertaggen uns. Eine Freundin von mir gibt Schwimmkurse in der Nähe von München. Wir bieten die Marke quasi per Open Source an und versorgen die Gruppen auch mit Eisbademeisters-Hoodies und -Mützen. 

Sprich: Sie betreiben Branding? 

GR: Da wir aus dem Marketing kommen, ist es für uns die Challenge: Wie groß können wir die Eisbademeisters machen? Klar, das Ganze benötigt eine Website, ein Design, einen bestimmten Look and Feel. Eisbaden generell ist in der Pandemie recht trendy geworden. Doch es ist selten so, dass damit auch Geld gesammelt wird. 

JS: Anfangs haben wir über Instagram und Twitter Bilder von uns in der Ostsee gepostet und diese mit dem Hashtag #Eisbademeisters versehen. Auf Betterplace.org hatten wir zuvor eine Spendenseite hochgezogen. Über die Jahre ist das Kollektiv Eisbademeisters mit seinen Ablegern sukzessive gewachsen und hat bisher über 100 000 Euro sammeln können. Dabei hat uns geholfen, dass wir im engen Austausch mit unserer Community sind. 

__________ 

Eine Lebenskrise führt Jörn Sieveneck ins Eiswasser. Im Oktober 2019 geht die Ehe in die Brüche, die gemeinsame Wohnung in Essen wird gekündigt. Drei Monate wohnt er in seinem Van, sucht im Norden Deutschlands nach einem neuen Job – und nach Wegen, mental aus seinem Tief herauszufinden. Auf YouTube findet er Videos, die die Vorteile des Kaltduschens vorstellen. Irgendwann beobachtet er einen älteren Mann, wie dieser in die winterliche Ostsee geht. Sieveneck ist angespornt und tut es ihm gleich. Seither ist er passionierter Eisbadender. Krank sei er seitdem nicht mehr gewesen, sagt der 44-Jährige. 

gemischtes-Doppel-Eisbademeister_Joern-Sieveneckc-Alexandra-Polina
„Über die Jahre konnte das Kollektiv Eisbademeisters mit seinen Ablegern über 100.000 Euro sammeln.“ – Jörn Sieveneck, Freelancer und Podcast-Host (Foto: Alexandra Polina)

„Eisbaden für Herzenswärme“ ist Ihr Motto, so unterstützen Sie mit Spenden soziale Vereine, aktuell den Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bunds. Dieser will schwerstkranken Menschen in ihrer letzten Lebensphase einen besonderen Wunsch erfüllen. Vermissen Sie Nächstenliebe in der Gesellschaft? 

GR: Nächstenliebe könnte immer etwas mehr sein. Viele sagen, dass es cool ist, was wir machen, und ich denke mir dann: Warum macht ihr dann nicht mit? Die Tafel in Rostock zum Beispiel sucht immer nach ehrenamtlichen Helfer*innen. Ich habe den Eindruck, dass es gerade Ältere sind, die helfen wollen. Das vermisse ich in unserer Generation etwas. 

JS: Da ich in der Vanlife-Szene unterwegs bin, erfahre ich vielleicht mehr Unterstützung und gegenseitige Hilfe als andere. Ob die Spendenbereitschaft in Deutschland groß ist? Das glaube ich nicht unbedingt. Da kann noch mehr gehen, gerade bei Menschen, die Besserverdienende sind. 

„Mir fehlt, dass Marken Social Media als Dialog begreifen.“

Jörn Sieveneck, Freelancer und Podcast-Host

Bereits in der Vergangenheit haben Sie mit den Eisbademeisters medial Wellen geschlagen. Zu Ihren Unterstützern zählen etwa der Fußballclub Hansa Rostock und Monchi, Frontmann der Band Feine Sahne Fischfilet. Hilft Ihnen Ihr Marketing-Background, um auf Ihre Sache aufmerksam zu machen? 

JS: Das hilft uns stark. In Rostock gibt es einen Partnerverein, die Seehunde. Die machen dasselbe wie wir und bedeutend länger. Aber sie haben auch gesagt, dass wir die bessere Pressearbeit machen. Ich denke, dass wir durch unsere persönliche und berufliche Historie besser auf Menschen zugehen und netzwerken können. Und wir wissen, wie man die Marketing-Klaviatur mithilfe von Storytelling und Social Media spielen muss. 

GR: Allein können wir nicht viel machen. Wir mussten sehr schnell Multiplikatoren finden und einbinden – von bekannten lokalen Persönlichkeiten bis hin zu einem Star wie dem Rapper Marteria. Jedes Teilen auf Instagram hilft uns. Bei uns geht es nicht nur ums Eis, wir wollen den Scheinwerfer auf die Gesellschaft richten. Die Armut steigt und die Leute haben immer weniger Geld. 

JS: Letztes Jahr haben wir 20.000 Euro gesammelt. Mit dem Geld konnten wir über den Förderverein der Tafel 300 Kindern ein Weihnachtsgeschenk ermöglichen, das sie sonst nicht gehabt hätten. 

_____________ 

Es ist Gabriel Raths Ehrgeiz, der den 43-Jährigen erstmals ins kalte Wasser steigen lässt. Eines Februarabends im Jahr 2020 sitzen er und Sieveneck nach einem langen Arbeitstag zusammen in der Schweriner Agentur, in der sie damals arbeiten, und reden übers Eisbaden. Da packt es Rath. Er will nicht wahrhaben, dass ihn Sieveneck als Zugezogener vorführt. Er schnappt sich ein Handtuch, steuert auf den anliegenden See zu und geht ins kalte Nass – bei zwei Grad Wassertemperatur. Ein halbes Jahr später gehen die Eisbademeisters an den Start. 

gemischtes-Doppel-Eisbademeister-Gabriel-Rathc-Alexandra-Polina
„Bei uns geht es nicht nur ums Eisbaden, wir wollen den Scheinwerfer auf die Gesellschaft richten.“ – Gabriel Rath, Referent Organisationsentwicklung beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband (Foto: Alexandra Polina)

Braucht zeitgemäßes Marketing mehr Menschennähe? 

GR: Auf jeden Fall. Und Glaubwürdigkeit. Marketing funktionierte früher für Unternehmen nach dem Megafon-Prinzip. Heute geht es mehr um Storytelling. Warum machen wir das, was wir machen? Wer sind wir? Was passiert an anderen Stellen? Das reißt die Leute mit. Das merken auch wir, weil jede Saison neue Leute hinzukommen. 

JS: Mir fehlt, dass Marken Social Media als Dialog begreifen. Das ist kein Kanal, in den man einfach Sachen reinkippt oder etwas, das als letztes Stück der Marketingstrategie betrachtet werden sollte. Ich finde es schade, dass viele Marken das noch so sehen. 
 
Mit der Weihnachtszeit kommen auch die gefühligen Werbebotschaften zurück. Kann die Inszenierung von Gefühlen überhaupt authentisch sein? 

JS: Die Spots sind teilweise gut, aber mich sprechen sie nicht an. Mich bringen sie nicht dazu, bei einer speziellen Supermarktkette einzukaufen. 

GR: Ich habe den Eindruck, dass wir diesen ganzen Brands nicht mehr glauben. Weil sie früher viel behauptet und nicht umgesetzt haben. Menschen hingegen glauben wir. In unserer Kommunikation setzen wir daher den Fokus nicht auf die Eisbademeisters, sondern auf uns. Das ist aufwendiger, weil man Resonanz bekommt, auf die man eingehen muss. Aber nur so kannst du dich entwickeln, wenn du die Community einbindest und Feedback annimmst. 

„Du kannst dich nur entwickeln, wenn du die Community einbindest und Feedback annimmst.“

Gabriel Rath, Referent Organisationsentwicklung beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband

Im Marketing wird derzeit viel über Communities geredet. Wie können Marken heute mehr sein als nur Sender von Werbebotschaften? 

JS: Auch hier wieder: authentisch sein. Aber Marken müssen einen Mehrwert für Kund*innen bieten. Der Mehrwert ist nicht das zu kaufende Produkt, es muss auf einer anderen Ebene stattfinden. OB hat beispielsweise mal eine Community gelauncht, in der du dich als weibliche Person über Probleme austauschen konntest, die wurde komplett ungebranded gelassen. Das war ein Mehrwert für die Menschen, weil es hier kein offensives Marketing gab. 

GR: In Anbetracht der gegenwärtigen Krisen müssen sich Unternehmen die Frage stellen, wie sie einen positiven Einfluss haben können, entweder mit dem Produkt oder durch das Produkt. Und nicht noch die fünfte Farbe in die Zahnpasta reinquetschen wollen. Wo Brands nachhaltig agieren, da kommen Leute und versammeln sich darunter oder machen mit und bringen Impulse herein. 

Herr Rath, was schätzen Sie am meisten an Herrn Sieveneck? 

GR: Jörn hat eine absolute Gelassenheit. Vielleicht hängt das mit seinem Vanlife oder seiner Selbstständigkeit zusammen. Die würde ich mir nicht nur für mich wünschen, sondern auch für viele andere. Ich finde auch seine Naturverbundenheit toll. Draußen zu sein, macht was mit uns. Das bedeutet ein Stück Freiheit. 

Und umgekehrt? 

JS: Was ich anerkenne, ist, wie viel Gabriel parallel machen kann: Podcast, drei Kinder und Familie, zwischendurch in Berlin arbeiten, nebenbei Musik machen – und das alles über die Jahre hinweg erfolgreich. Da habe ich immer sehr ehrfürchtig drauf geschaut. Und dass er bei vielen Dingen ausdauernder ist als ich. Ich schiebe gern Dinge an, aber suche mir gern schon das nächste Projekt. 

Schon mal einen Auftritt von Herrn Rath gesehen? 

JS: Bisher noch nicht. Aber ich habe ihn im Fernsehen gesehen. 

GR: Meinen größten Auftritt hatte ich im Rostocker Ostseestadion vor 35 000 Leuten. Danach kann man ja eigentlich nicht mehr auftreten. Heute fehlt mir oft die Zeit zum Musikmachen, wirklich aufgehört habe ich jedoch nie. Daneben gibt’s noch meinen Job, meine Familie und meinen Podcast, aber es gelingt mir nicht immer, alle Bälle in der Luft zu halten. 

Ist das schon der Life-Work-Shift, von dem bei New Work gesprochen wird? 

GR: Wir suchen uns die Dinge, die uns interessieren, und schauen dann, womit man Geld verdienen kann. Wenn ich einen Podcast mache, schaue ich auch, wie ich das Projekt monetarisieren kann. Früher habe ich Rap-Auftritte gemacht, heute sind es Keynotes. Es ist aber nicht so, dass auf der einen Seite die Arbeit ist und auf der anderen das Leben. Ich mache die Dinge, die ich machen will. Das heißt aber auch, dass man viel ausprobieren und sich entwickeln muss. 

JS: Ich betrachte eher mich und mein Leben und schaue, was links und rechts davon passt. Anfang der 2000er Jahre, als ich meinen Musikpodcast als Hobby gemacht habe, hatte ich Erfolg damit, was mich wiederum selbstbewusster gemacht hat. Als Berufsanfänger hatte ich damals nicht viel zu lachen. Und auch in den letzten fünf Jahren habe ich Sachen gemacht, die mein Leben bereichern. 
 
Was bedeutet Freiheit für Sie? 

GR: Freiheit beginnt im Kopf. Ich kann mir noch vorstellen, woanders hinzuziehen, einen anderen Job zu machen, Dinge auszuprobieren. Für mich wäre es ein Gefängnis, einen Job bis zur Rente zu machen. Freiheit bedeutet für mich also, mein Leben selbstbestimmt leben zu können und mich sozusagen bewusst auf den Fahrersitz zu setzen. 

JS: Das mit dem Fahrersitz ist eine gute Überleitung. Freiheit bedeutet, seinen Tag so zu gestalten, wie man möchte, mit den Kund*innen zu arbeiten, mit denen man möchte. Im Fahrersitz dorthin zu fahren und zu arbeiten, wo ich möchte. Und nicht von 9 bis 18 Uhr an den Schreibtisch gekettet zu sein. Das finde ich nicht mehr zeitgemäß und das behindert die Kreativität. 
 
Freiheit geht oft mit Alleinsein einher. Fühlen Sie sich manchmal einsam? 

JS: Ich glaube, jeder in unserer Gesellschaft fühlt sich heute einsam. Die Zahl derer steigt von Jahr zu Jahr. Wenn ich in der Natur bin oder auch mal in meiner Wohnung, dann bin ich oft allein. Und das kann zu depressiven Phasen führen. Mit etwas Selbstoptimierung oder mit einem Telefonat kann man sich aber auch wieder herausziehen. Die Verbindung und Nähe zu anderen ist immens wichtig, sonst drehen sich die Gedanken und du wirst gaga. 

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.