Herr Böcker, wieso sind die Themen Barrierefreiheit und Inklusion wichtig für das Recruiting und das Employer Branding von Unternehmen?
Wenn ein Unternehmen die Kriterien der Barrierefreiheit einhält, kann es einen anderen Kreis an Mitarbeitenden rekrutieren und Menschen mit Behinderung einbeziehen. Damit sendet es auch Signale in diese Zielgruppe hinein. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es ist auch für Menschen ohne Behinderung ein positives Signal. Von den Maßnahmen, die zu Vereinfachungen führen, profitieren am Ende alle. Es gibt neben diesem Thema noch weitere – außerhalb der Produkte und Marken – die ein Zeichen einer offenen Unternehmenskultur sind. Nachhaltigkeit zählt für mich auch dazu. Das zahlt klar auf das Thema Employer Branding ein und trägt dazu bei, das Image zu schärfen.
Wie sollten Unternehmen das Thema Barrierefreiheit angehen, um damit attraktiv für qualifizierte Fachkräfte mit Behinderung zu sein? Und wer unterstützt sie dabei?
Neben dem Abbau physischer Barrieren ist vor allem die Einrichtung von barrierefreien digitalen Arbeitsplätzen wichtig. Es gibt Spezialisten, die Arbeitsplätze im Hinblick auf Barrierefreiheit prüfen und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen. Jeder Arbeitsplatz hat ein spezifisches Anforderungsprofil, was mit den Fähigkeiten der Menschen in Einklang zu bringen ist. Welche weiteren Formen der Unterstützung und Fördermöglichkeiten es für Unternehmen gibt, wird in einer Veranstaltungsreihe der „Aktion Mensch“ zur digitalen Barrierefreiheit gezeigt. In dieser Reihe werden unter anderem der rechtliche Rahmen, innovative technische Möglichkeiten und konkrete Umsetzungsmaßen in den Unternehmen aufgezeigt. Das wichtigste ist dabei, immer wieder an Beispielen zu lernen, wie für Menschen mit Behinderung ein funktionierender Arbeitsplatz eingerichtet werden kann.
Welche Aspekte von Barrierefreiheit sind für Mitarbeiter*innen besonders relevant?
Die Mitarbeitenden müssen direkt am Arbeitsplatz integriert werden. Je nach individueller Situation gibt es dabei keine Standardlösungen. Es muss buchstäblich zusammenpassen: Auf der einen Seite der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie natürlich auch seinen Einschränkungen; auf der anderen Seite der Arbeitsplatz und seine spezielle Ausrüstung, die vom Schreibtisch über die Hard- und Software bis zu zusätzlichen digitalen Hilfsmitteln reicht.
Unternehmen sind aufgrund des Fachkräftemangels darauf angewiesen, bislang zu wenig genutzte Arbeitskräftepotenziale zu erschließen. Das gilt etwa für Frauen, ältere Menschen oder Langzeitarbeitslose. Nutzen die Firmen auch das Potenzial von Menschen mit Behinderung?
Die Arbeitslosigkeit liegt für Menschen mit Behinderung leider deutlich über dem Durchschnitt und ist während der Corona-Pandemie noch einmal angestiegen. Der Erfolg aller Maßnahmen zum Thema Barrierefreiheit muss sich daran messen lassen, ob es gelingt, diese Entwicklung umzukehren. Hier gibt die Politik zunehmend verbindlichere Rahmenbedingungen vor, genauso wie sie es mit der DSGVO oder dem Lieferkettengesetz gemacht hat.
Wo stehen Unternehmen im Jahr 2022 bei der Integration von Menschen mit Behinderung?
Das Bild ist da sehr heterogen. Grundsätzlich wird das Thema im Bereich der öffentlichen Verwaltung ernster genommen als in der Privatwirtschaft. Es gibt aber durchaus viele positive Beispiele in der Wirtschaft. Neben Konzernen wie der Deutschen Telekom und der Deutschen Post ist ein solches Vorbild auch Ford: Acht Prozent der Mitarbeiter*innen des Autobauers in Deutschland sind Menschen mit Behinderung – generell liegt diese Beschäftigungsquote um die fünf Prozent. Das Unternehmen bemüht sich seit Jahren intensiv um das Thema und sucht immer wieder den Dialog, um mehr Beschäftigte mit Behinderung in Arbeit zu integrieren. Dafür hat Ford auch den Inklusionspreis der Wirtschaft 2021 erhalten. Andere Unternehmen, mit denen wir auch im Austausch sind, haben noch einen vergleichsweise weiten Weg vor sich – selbst um die staatlichen Mindestvorgaben zu erfüllen.
Gibt es auch Unternehmen, die sich barrierefreier darstellen als sie es tatsächlich sind?
Die gibt es. Das Ganze fällt unter den Begriff „Rainbow-Washing“ und fliegt in der Regel irgendwann auf. Ich rate Unternehmen dringend davon ab, nach außen zu kommunizieren: Wir haben unsere Hausaufgaben zu 100 Prozent erledigt und wir sind die Besten bei der Inklusion. Sie sollten lieber kleinere Maßnahmen erfolgreich umsetzen, die Integration von Menschen mit Behinderung als kontinuierlichen Prozess sehen und dabei authentisch bleiben. Glaubwürdigkeit ist in diesem Bereich besonders wichtig.
Jens Böcker ist Wirtschaftswissenschaftler mit dem Fachgebiet Marketing für innovative Technologien und Hochschullehrer. Er ist seit 2000 Professor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Außerdem ist der 56-Jährige als Unternehmensberater, Veranstalter, Moderator, Referent, Autor und Beirat tätig.