Menschen mit Behinderung haben spezielle Bedürfnisse. Das gilt auch für die Auswahl ihrer Möbel. Häufig werden Mainstream-Produkte diesen Anforderungen nicht gerecht. Das kann große Einschränkungen im Alltag bedeuten.
Vor diesem Problem stand auch Eldar Yusupov. Der junge Mann hat Zerebralparese, eine Störung des Gehirns, die Auswirkungen auf seine Sensomotorik und seinen Bewegungsapparat hat. In einem Video sagt der 32-Jährige, er sei in seiner eigenen Wohnung mit Möbeln umgeben, die „Krüppel“ rufen. Er wolle auf einem Sofa sitzen, ohne Angst haben zu müssen, nicht mehr hochzukommen. Das Video war der Startschuss für eine Marketing-Kampagne, die ein internationales Medienecho erzeugen würde.
Rückblende: Wir befinden uns in Israel. Eldar Yusupov arbeitet als Werbetexter in der Agentur McCann Tel Aviv und ist mit einem Ikea-Projekt beschäftigt. Dabei kommt ihm die Idee, Erweiterungen für Ikea-Möbel zu entwerfen, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zugeschnitten sind. „ThisAbles“ ist geboren.
In Zusammenarbeit mit zwei NGOs, die sich auf Lösungen für Menschen mit Behinderungen spezialisiert haben, beginnt Ikea Israel mit der Entwicklung. Zuerst werden wichtige Ikea-Produkte ausgewählt. Die NGO Milbat entwickelt dann eine Reihe von Erweiterungen dafür. Access Israel, die zweite NGO, überprüft und genehmigt sie anschließend.
2019 stellt das Unternehmen schließlich die ersten 13 Produkte vor. Darunter ist auch ein Produkt zur Erhöhung eines Ikea-Sofas, das es dem Ideengeber Eldar Yusupov ermöglicht, ohne Hilfe aufzustehen. Die Erweiterungen sind als 3D-Datei kostenlos auf der Webseite von „ThisAble“ verfügbar und können Zuhause mit einem 3D-Drucker ausgedruckt werden.
Kampagne schlägt internationale Wellen
Auf dieser Seite können die Nutzer*innen auch Einschränkungen melden, die sie bei der Benutzung von Ikea-Produkten feststellen. Die Resonanz war groß. „Wir haben so viele Dankesnachrichten von Menschen mit Behinderungen erhalten, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben wie alle anderen fühlten“, erinnert sich Anat Livneh heute. Sie ist PR- und Social-Media-Koordinatorin in der Marketingabteilung von Ikea Israel.
International bekannte Medien wie die New York Times haben über das Projekt berichtet. Die Macher*innen gewannen mehrere renommierte Preise und sorgten für große Aufmerksamkeit. Nur in Deutschland blieb das große Medienecho aus.
2021 folgte eine weitere Produktreihe, speziell für Kinder mit Behinderung. Darunter war beispielsweise eine Seitenbegrenzung für den Kinderstuhl „Mammut“, die verhindert, dass Kinder mit einem beeinträchtigten Gleichgewichtssinn vom Stuhl fallen.
Auch heute, drei Jahre nach dem Start des Projekts, arbeitet Ikea Israel weiterhin an barrierefreien Produkten. „Nachdem wir mit eigenen Augen gesehen haben, wie viel es den Menschen bedeutet, wussten wir, dass wir nicht aufhören können“, sagt Anat Livneh. Aktuell entwickelt das Unternehmen weitere Produkte für Erwachsene und Kinder.
3D-Druck fast 90 Prozent günstiger
Die Kampagne zur Produktreihe passt zur Unternehmensphilosophie des schwedischen Mutterkonzerns, die günstige Produkte für alle verspricht. Darunter fällt auch die 3D-gedruckte Halterung für einen Gehstock, die am Bett befestigt werden kann. Sie besteht aus zwei Teilen und kann in etwas mehr als vier Stunden ausgedruckt werden. Alles, was Kund*innen dafür brauchen, ist ein 3D-Drucker, eine Spule PLA (als Material) und Strom. Kostenpunkt: circa 90 Cent für das Material und 30 Cent für den Strom. 3D-Drucker gibt es bereits ab 150 Euro gebraucht zu kaufen. Abgesehen vom einmaligen Anschaffungspreis des Druckers kostet die Halterung am Ende 1,20 Euro. Im Handel müssen Kund*innen für ein vergleichbares Produkt zehn Euro oder mehr zahlen.
Grundsätzlich ist die Idee, Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung mit dem 3D-Drucker herzustellen, nicht neu. Auf der Plattform Thingiverse gibt es sowas schon länger, frei für alle verfügbar. Neu ist jedoch, dass eine große Marke wie Ikea das für ihre eigenen Produkte nutzt und die Pläne anschließend open-source, also für alle frei zugänglich, zur Verfügung stellt. Ein vergleichbares Projekt gibt es auch heute, drei Jahre später, nicht. Es ist ein Paradebeispiel, das überdies zeigt: Inklusion kann nur dann stattfinden, wenn sie auch unter den Mitarbeitenden eines Unternehmens gelebt wird.