Abgehängte Schaufenster und verwaiste Fußgängerzonen. Sie kennen das vielleicht: Wo früher noch ein traditionsreicher Metzger oder ein Schuhgeschäft war, ist der Zutritt jetzt erst ab 18 erlaubt. Ein neues Wettbüro hat aufgemacht. In kleinen und mittelgroßen Städten ist der Wandel besonders deutlich zu sehen. Aber auch Einzelhändler in Großstädten kämpfen mit steigenden Mietpreisen und dem Online-Handel. Und da wäre noch diese Pandemie, deren Ende absehbar, aber noch lange nicht da ist. Als ob das noch nicht reichen würde, fordern Umweltverbände und Bürgerbewegungen seit Jahren Autos aus den Innenstädten oder sogar aus der gesamten Stadt zu verbannen. Das fordern sie nicht nur im Namen der Verkehrstoten. Ihnen geht es um die Gesundheit aller Menschen, deren Aufenthaltsqualität hochwertiger und weniger gefährlich werden soll. Die Gegner sind empört: Das sei besonders für Menschen mit Behinderung ein Problem, die auf ein Auto angewiesen seien, um überhaupt in die Innenstädte zu gelangen.
Hier stutze ich. Ist das wirklich so? Nutzen heute Menschen mit Behinderung vor allem das Auto, um in die Innenstädte zu gelangen? Wie viele Menschen mit Behinderungen trauen sich überhaupt in die Innenstadt, frage ich mich und versuche mich, anhand meiner eigenen Stadt Köln, daran zu erinnern, wie viele Menschen mit Behinderung mir so beim Shoppen aufgefallen sind.
Ich bin weder ein Experte für Menschen mit Behinderung noch für das Thema Barrierefreiheit. Meine eigene Sehbehinderung ist mit gerade mal etwas mehr als einer Dioptrin eher zu vernachlässigen. Aber ich bin ein Journalist. Also: Schuhe und Jacke an, FFP2-Maske an, auf die selbst der Gesundheitsminister stolz wäre, und ab aufs Rad.
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Über den Kaiser-Wilhelm-Ring zum Neumarkt
Wir sind in Köln. Nach einigen grauen Wochen strahlt der Himmel heute königsblau. Die Sonne steht immer noch recht niedrig. Es ist ein Samstag im Februar, wir haben 14 Uhr, beste Shopping-Zeit also.
Ich fahre in die Innenstadt, auf dem in der Corona-Pandemie dankenswerterweise umgebauten Kaiser-Wilhelm-Ring. Aus einer vierspurigen Rennbahn wurde in jeder Richtung eine Rad-Spur eingerichtet, die so großzügig ist, das auch ein Lastenrad Platz hat.
Am Neumarkt angekommen, schließe ich mein Rad an einem der zahlreichen Stellplätze an. Auch hier hat sich einiges in Sachen Fahrradverkehr getan. Die zweispurige Straße, die den großen Platz im Herzen Kölns umrundet, wurde zumindest in Teilen in eine Fahrradspur umgebaut. Die Fleischmengergasse, die am unteren Ende in den Neumarkt mündet, wurde ganz zur Fahrradstraße; Einfahrt vom Neumarkt ist Autos neuerdings durch ein paar Poller gänzlich untersagt.
Worauf muss ich an der Fußgängerampel achten?
Jetzt stehe ich an der Fußgängerampel und warte, wie so oft, gefühlt ein bisschen zu lange auf grün. Worauf muss ich jetzt eigentlich achten?
Wer sich durch die Webseiten von Behinderten-Verbänden klickt, dem muss schnell klar werden: Es gibt nicht DIE Menschen mit Behinderung. Jeder Mensch mit Behinderung, wird mir klar, ist so einzigartig in seinen Anforderungen wie es alle anderen auch sind. Schon allein blind ist nicht blind, lerne ich beim Deutschen Sehbehindertverband e.V. Je nach Sehrest, also wie viel Sehstärke noch übrig ist, gibt es andere Bedarfe.
Richtig klar wird mir die Vielfalt der Behinderungen, als ich mir die Daten des Statistischen Bundesamtes anschaue. Fast jeder zehnte in Deutschland lebende Mensch gilt als schwerbehindert. Das bedeutet: Ihr Behinderungsgrad von mindestens 50 Prozent wurde von einem Versorgungsamt anerkannt. Und dazu kommen weitere, die sich scheuen, den Antrag zu stellen: Mit Autoimmunerkrankungen wie Diabtes Typ 1 oder solche, die eine Krebserkrankung überstanden haben, diese aber nicht öffentlich machen wollen.
Die Hälfte dieser 7,3 Millionen Menschen ist dabei über 55 Jahre alt. Nur etwas mehr als zwei Prozent der Menschen mit Behinderung ist 18 Jahre oder jünger. Die meisten Behinderungen, nämlich über 80 Prozent entstehen durch eine Krankheit und nur 4,1 Prozent sind angeboren. Dabei ist die körperliche Behinderung mit fast zwei Dritteln die häufigste Art, bei einem Viertel sind es die inneren Organe und ihre Systeme, fast 5 Prozent sind blind oder sehbehindert, knapp vier Prozent sind schwerhörig oder haben eine Gleichgewichts- oder Sprechstörung. Und weil das alles noch nicht kompliziert genug ist: Vier von zehn Menschen mit Behinderung haben mehr als eine Behinderung.
So funktionieren die Fahrstühle also
Als ich an der Ampel stehe, kenne ich diese Zahlen noch nicht. Mein Blick fällt beim Überqueren der Straße auf einen Aufzug, der am unteren Ende des Neumarktes steht und mit dem ich testweise runter zur U-Bahn fahre. Ich weiß noch nicht, dass es für blinde Menschen wichtig ist, dass nicht nur die Tasten mit Blindenschrift beschriftet sind, sondern dass der Halt auch angesagt wird. Das ist besonders wichtig, wenn es mehr als Oben und Unten gibt. Hier ist das so, wohl aber nicht bei allen Aufzügen, wie ich später lerne.
Als ich zur nächsten Ampel gehe, um über die Richmodstraße zur Breite Straße zu gehen, fallen mir weiße Bodenmarkierungen auf. Ein Bodenleitsystem, um Menschen mit Sehbehinderung die Trennung von Fußweg und Fahrbahn anzuzeigen, oder um den Übergang von Fußweg zu Treppen oder der Gefahr zum Beispiel am Bahnsteig anzuzeigen. Ich freue mich, dass ich etwas gefunden habe, was ich in meinen Artikel schreiben kann. In diesen Artikel schreibe ich dann später auch, dass es so gut wie die letzten Markierungen sein sollten, die ich an diesem Tag entdecke.
Wo sind die Menschen mit Behinderungen?
Ich gehe also durch Kölns Einkaufsstraßen und schaue mich um. Es ist noch recht leer, fällt mir auf. Hier kann es bisweilen unangenehm voll sein. So voll, dass Einheimische bewusst die Innenstadt meiden, insbesondere vor den Feiertagen, und lieber in ihren Veedeln einkaufen. Heute ist es noch recht leer. Ich halte Ausschau, laufe eine halbe Stunde herum und versuche etwas zu entdecken. Denn dafür bin ich ja extra in die Innenstadt gefahren. Aber egal wo ich hinschaue: Ich entdecke nichts. Keine Menschen mit Behinderungen, keine Blinden mit Stock oder Hund, niemand bleibt mit einem Rollstuhl an einer Bordsteinkante hängen. Ich gehe in ein paar Läden und sehe keine Rollifahrer an den Aufzügen warten, niemand beschwert sich über zu enge Umkleidekabinen oder zu hohe Kleiderhaken. Ich muss niemandem etwas reichen, weil die Person nicht ran kommt oder die Tür aufhalten.
Tatsache ist, dass den meisten nicht anzusehen ist, dass sie eine Behinderung haben, wenn sie eben nicht ganz offensichtlich blind sind oder auf eine Geh- oder Rollhilfe angewiesen sind. Schwerhörigen Menschen sieht man es nicht an, dass sie kaum etwas hören. Und „Verzeihung, sind sie ein Mensch mit Behinderung?“ ist eine Frage, die ich so gerade eher nicht stellen möchte. Ich stelle also nach einer dreiviertel Stunde fest: Dass fast jeder Zehnte in Deutschland schwerbehindert ist, merkt man der Kölner Innenstadt nicht an. Stattdessen: Viele junge Menschen, die mit Tüten und Rucksäcken in Läden gehen. Mütter mit Kinderwägen, einzelne Leute, die es eilig haben, andere wiederum nicht. Bleiben bei einem Straßenmusikanten stehen, der ein rollbares, kleines Klavier mitgebracht hat und für eine Weile inmitten der Breite Straße aufspielt. Sind alle Menschen, denen ich an diesem Tag begegne, nicht behindert? Ich weiß es schlicht nicht.
Dieser Rollifahrer hat mich besiegt
Nach etwa eineinhalb Stunden entdecke ich ein älteres Paar. Sie ist gut zu Fuß, er sitzt auf einem Elektromobil, wie man sie häufiger mal in den USA antrifft. Ich beschließe sie zu verfolgen und zu schauen, in welche Läden sie gehen und wie es an Ampeln und auf unterschiedlichem Terrain zugeht. Das Fahren des Elektromobils scheint allerdings Spaß zu machen. Die Frau kommt kaum hinterher, so heizt der Mann voraus. Gerne auch mit Einsatz der Hupe. Einmal halten sie an, um die Tüten im Elektromobil zu verstauen. Es geht weiter souverän über Fußgängerampeln und Bürgersteige. Nach einer halben Stunde gebe ich die Observation auf. Das Paar hat ordentlich Strecke gemacht. Ich bin ziemlich weit von meinem Einsatzgebiet weg. Vermutlich hätte ich im Normalfall eher die Straßenbahn genommen, statt diese Strecke zu gehen. Meine Kondition macht sich bemerkbar. Dieser Rollifahrer hat mich definitiv besiegt. Respekt geht raus an die Gattin, für die leider kein Platz mehr auf dem Elektromobil war.
Als ich zurück zum Neumarkt komme, ist es merklich voller geworden. Ich nehme mir vor, noch eine Stunde zu investieren und weiter Ausschau zu halten. Zwei Rollstuhlfahrende entdecke ich noch. Der Klavierspieler hat sich mittlerweile die Breite Straße, die dann zur Ehrenstraße wird, herunter bewegt an eine Stelle, die eigentlich nicht so günstig ist. Hier kreuzen die alte Wallgasse und die Benesisstraße die Ehrenstraße. Er steht mit dem Klavier tatsächlich auf der Straße und macht die Situation nicht unbedingt entspannter. Passanten kommen hier von allen Seiten. Autos fahren an dieser Stelle ohnehin schon nur mit Schrittgeschwindigkeit. Eine gereizte Golf-Fahrerin hupt einen Jaguar-SUV-Fahrer an und schimpft hinter ihrem Lenkrad, während dieser auf Fußgänger wartet. Für alle gibt es hier so gut wie keinen Platz. Am wenigsten für Fußgänger, wird mir klar, als ich die Ehrenstraße herunter schaue. War die Breite Straße noch eine Fußgängerzone, kommen hier wieder Autos hinzu. Das Gedränge auf dem Bürgersteig ist groß, während kaum Autos auf der Straße fahren. Ein ungleiches Verhältnis.
Learnings aus dem Trip in die Kölner Innenstadt
Zurück im Homeoffice frage ich mich, was ich denn nun von meinem Trip in die Innenstadt gelernt habe. Mir ist schon klar, dass ich nur einen kleinen Eindruck bekommen habe, an einem Tag und zu einer Uhrzeit, an dem sich Menschen mit Behinderung vielleicht besonders aus der Innenstadt fernhalten. Zudem befinden wir uns inmitten einer Pandemie. Wenn 80 Prozent der Behinderungen durch Krankheiten entstehen, dann werden diese Menschen versuchen, sich nicht in einer Pandemie mit vierstelliger Inzidenz an einem Samstag unter die Leute zu mischen. Da mag der Himmel noch so blau sein.
Meine Ausgangsfrage war: Wie viele Menschen mit Behinderung sind überhaupt in der Innenstadt und wie viele davon nutzen das Auto und sind darauf angewiesen auch in Zukunft mit dem Auto anfahren zu können? Diese Frage konnte ich nicht final beantworten, auch wenn mir klar geworden ist, dass es sich hierbei nicht um ein massenhaftes Phänomen handeln kann. Deutsche Fußgängerzonen sind jetzt nicht der Go-to-Place für Menschen mit Behinderung, wenn sie mal shoppen gehen wollen. Manchmal haben sie keine andere Wahl, weil dort Ärzte sind oder Ämter. Mir ist aber auch klar geworden, dass ich keinen Grund sehe, warum wir es behinderten Menschen nicht so einfach wie möglich machen sollten in die Innenstädte zu kommen. Wenn es nicht gerade die apokalyptischen Zustände eines Adventssamstags sind, ist die Breite Straße ein schöner Ort, mit Kaffees und mobilen Klavierspielern.
So ist zum Beispiel die Forderung des Hamburger Landesverbandes des Sozialverbands Deutschland absolut verständlich Menschen mit Behinderung die Innenstadt zugänglich zu machen. Ausgangspunkt für diese Forderung ist der Plan in Hamburg eine autofreie Zone zwischen Holstenwall, Lombardsbrücke und Deichtorplatz einzurichten. Ausnahmen seien nur für den Lieferkehr geplant.
Wie man trotz Umweltschutz auf die Bedarfe von Menschen mit Behinderung eingehen kann, macht die Kölner Stadtverwaltung vor. So können Menschen mit Behinderung einen Schwerbehindertparkausweis beantragen, wenn sie als Anwohner mit einem Diesel-Fahrzeug in die Umweltzone fahren wollen. Behindertenparkplätze in der Innenstadt für solche Anfahrten freizuhalten, sollte mit dem neu geschaffenen Platz weniger das Problem sein. Dass Einkaufsstraßen ohne Autos durchaus erfolgreich sein können, wird mir auf dem Rückweg klar, als ich an der Schildergasse vorbeikomme. Sie ist laut einer pan-europäischen Footfall-Analyse im Auftrag von BNP Baripas zur beliebtesten Einkaufsstraße Europas erklärt worden. Inwiefern das auch Menschen mit Behinderung so sehen, ist aus der Studie leider nicht ersichtlich.