Es sind harte Zeiten angebrochen, denn die Automobilhersteller kämpfen gleichzeitig an zwei Fronten: Zum einen muss das Kerngeschäft abgesichert und effizienter gestaltet werden. Schließlich werden die Unternehmen auch in den kommenden Jahren den Großteil ihres Umsatzes durch das Neu- und Gebrauchtwagengeschäft sowie die – eher stiefmütterlich behandelten – eigentlichen Gewinntreiber After Sales und Financial Services erwirtschaften. Zum anderen gilt es, die aus diesem Effizienzhub frei werdenden, finanziellen Mittel so einzusetzen, dass im nächsten Schritt in neue Geschäftsfelder wie Connectivity, Elektromobilität, autonomes Fahren oder Ausbau von Partnerschaften mit Technologieriesen wie Google und Amazon investiert werden kann. Diese integrative Transformation zu meistern, ist kein leichtes Unterfangen. Schließlich wird den Herstellern nicht weniger abverlangt, als den Komplettumbau zu meistern, während das Unternehmen sich in voller Fahrt auf einer Strecke mit Hindernissen befindet.
Von der Raupe zum Schmetterling
In diesem volatilen Prozess verwechseln viele Unternehmenslenker immer noch die Begriffe Transformation und Change. Während eine Transformation eine strukturell tiefgreifende Veränderung der gesamten Organisation darstellt, beinhaltet Change, oftmals nur eine Weiterentwicklung oder Optimierung des Status Quo. Am besten verdeutlichen lässt sich dieser Unterschied am Bild einer Raupe: Transformation, macht aus der Raupe einen Schmetterling – mit völlig neuem Aussehen sowie anderen Fähigkeiten. Bei einer bloßen Veränderung (Change-Prozess) hat man im besten Fall am Ende nur eine sehr schnelle Raupe.
Im Kern sind es zwei Themen, die der Transformation der Automobilbrache bisher im Wege stehen:
Im alten Denken erstarrt
Die Organisationen der Unternehmen sind seit Jahrzehnten erfolgreich auf „Autos bauen“ ausgerichtet – also auf das Ingenieurs-Know-how zentriert. Ein Organisations- und Führungs-Konzept, das komplett konträr zu integriertem Arbeiten, interner und externer Vernetzung und Agilität steht. Führungskräfte haben jahrelang in die präzise Ausrichtung und Funktion ihrer Silos investiert, um das komplexe System bestmöglich am Laufen zu halten. Wenn nun in ersten Ansätzen neue, alternative Arbeitsweisen und Strukturen entstehen, fragen sich viele: „Soll ich der Erste sein, der das bekannte Terrain verlässt? Lohnt sich das Risiko, eine Transformation einzuleiten, obwohl der Ausgang vollkommen ungewiss ist?“
Der zweite Punkt ist das Thema Steuerung: Was ist der heutige Kern-KPI der Automobilbranche? Absatz, Absatz, Absatz. „Wir sind in 2020 der Hersteller mit den global meisten abgesetzten Einheiten“ dröhnt es von jeder Hauptversammlung. Hier tritt weiter die gute alte Ingenieursdenke zu Tage: Das Produkt, seine Vehicel Identification Number (VIN) und dessen Innovation stehen klar im Zentrum von Organisation und Prozess-Design. In einer Welt neuer digitaler Geschäfts- und insbesondere Service-Modelle ist der Fokus jedoch ein komplett anderer: Kundenzentrierung ist das Maß aller Dinge. Sicher meinen einige Unternehmen noch, dass sie Produkte an Kunden verkaufen und messen daher den Net Promoter Score (NPS). Kundenzentrierung geht weit darüber hinaus. Für die Technologieplayer und Start-Ups in den globalen Innovationszentren bedeutet echter Kundenfokus, alle Prozesse, intern wie extern, auf den Kundennutzen hin auszugerichten. Das eigene Handeln wird konstant hinterfragt: „Stifte ich hiermit einen echten Mehrwert für meinen Kunden oder erfüllen wir nur einem der Ingenieure einen Machbarkeitstraum?“
Echtes Technologieverständnis für eine Debatte auf Augenhöhe
Darüber hinaus ist ein hohes Maß an Technologieverständnis unabdingbar. Machine Learning und Artificial Intelligence sind sicher nur Beispiele und autonomes Fahren nur ein spezifischer Anwendungsfall. Wie in der Politik auch ermöglicht nur substanzielles Wissen eine Debatte und Auseinandersetzung mit Partnern und Wettbewerbern auf Augenhöhe. Unternehmer und Manager müssen die Technologie verstehen. Sie sollten wissen, wie sie Innovationen nutzenbringend einsetzen und welche Vorrausetzungen sie für die Umsetzung brauchen.
Besonders kritisch ist hier das Thema Geschwindigkeit: Auf den ersten Blick kann man sich noch einigermaßen zurücklehnen, denn der Technologiefortschritt erscheint nach wie vor noch relativ beherrschbar. Was sich allerdings dahinter verbirgt, ist in Wirklichkeit die Schwierigkeit des Menschen, in Exponentialfunktionen zu denken. Ohne es wirklich zu merken, bewegen wir uns insbesondere beim Thema AI im Eintritt in eben eine solche Exponentialkurve. Zum einen befeuern die üblichen Verdächtigen der Technologiebranche dieses exponentielle Wachstum. Auf der anderen Seite, und das übersehen viele bewusst, beschleunigt China massiv und proklamiert für sich bis 2030 nichts weniger als die weltweite Vormachtstellung in allen Themen der Digitalisierung – insbesondere in der künstlichen Intelligenz.
Integrative Transformation kann letztlich nur gelingen, wenn bestehende Paradigmen infrage gestellt werden. Die vorherrschenden Silo-Organisationen und die Produkt-zentrische Denkweise sind dieser gesamtheitlichen Aufgabe nicht gewachsen. Es bedarf eines mutigen, fokussierten Leaderships, das neben der Kundenfokussierung auch das notwendige Technologieverständnis einbringen kann. Schlussendlich kann man nur Dinge managen, die man mindestens grundsätzlich versteht. Generisches inhalts-agnostisches Management reicht nicht mehr aus. Wer dem Mitbewerbern in der Autobranche davonfahren will, muss auch gleichzeitig Meinungsführer und aktiver Gestalter des Wandels sein. Ein CEO, der damit kokettiert, dass seine digitalen Fähigkeiten sich auf „das Drücken eines iPhone-Knopfes“ (haben iPhones noch Knöpfe?) beschränken, kann nicht glaubwürdig der Treiber eines komplexen digitalen Wandels sein. Digitale Transformation ist Chefsache.