Die „neue Normalität“ nimmt in der größten Fabrik der Welt langsam Gestalt an. Doch kann man das alles überhaupt „normal“ nennen? Das VW-Stammwerk in Wolfsburg ist wieder am Netz – und vieles ist nicht mehr so wie vorher. Es ruckele noch an einigen Stellen, auch bei den Händlern und Zulieferern von Stahl oder anderen Rohstoffen, sagte Konzernchef Herbert Diess jüngst beim Hochlauf.
Überall auf dem riesigen Gelände am Mittellandkanal mahnen Plakate zu Vor- und Umsicht im Corona-Neustart. Die Grundstimmung: angespannter Optimismus. Das offizielle Ziel: aufholen, zurück zum Leben vor dem Shutdown. Behutsam, aber so schnell wie möglich. Ob die Kernbranche einfach auf ein Weiter-so hoffen kann, steht jedoch in den Sternen.
Die Autowelt könnte bald eine andere sein. In Teilen ist sie es schon. Ökonomen rechnen mit einer tiefen Rezession in Deutschland. Verbraucher – oft ebenso verunsichert wie Mitarbeiter und Manager von Herstellern und Zulieferern – scheuen die Ausgaben für größere Anschaffungen. Selbst wenn sie es sich eigentlich leisten könnten, wie manche Umfragen zeigen. Und selbst wenn die Unternehmen wieder Tritt fassen, schwebt über der zwangsweisen Entschleunigung die Frage, ob nicht der Moment für ein prinzipielles Umlenken da ist.
Zwischen Öko-Wende und veränderter Arbeitswelt
Das Problem nur: Die CO2-Regeln sollen verschärft werden, während nun erst einmal das Massengeschäft zurückkehren muss. Wie kann das gehen? Einzig mit einem entschlossenen Jetzt-erst-recht, glauben Befürworter einer raschen Öko-Wende wie der Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Gehrs. „Wenn die Bundesregierung mitten im fundamentalsten Branchenumbruch der Automobilgeschichte alte Antriebe fördert, verwechselt sie Gaspedal mit Bremse“, sagt er. Die Not strikterer Emissionsvorgaben müssten die Anbieter jetzt zur Tugend machen. Eine neue Förderdebatte ist in vollem Gange. Gibt es weitere Kaufprämien? Falls ja, werden sie an Kriterien der Nachhaltigkeit und an weniger Klimabelastung gekoppelt? Berlin will bis Anfang Juni entscheiden.
Derweil versucht die VW-Belegschaft, mit der neuen Realität klarzukommen. „Vor Corona hat es hier noch ganz anders ausgesehen“, erzählt der Wolfsburger Werkleiter Stefan Loth. Sorgfältig übt man an der Geburtsstätte von Golf und Tiguan das Leben „post Corona“ ein. Die Kollegen sind vorerst nur in geringerer Zahl an den Bändern und in den Büros, die Fertigung läuft im Sparmodus. Andere Taktzeiten, entzerrte Schichtpläne, weniger Menschen je Fläche. Getrennte Pausen, markierte Laufwege. Spuckschutz in der Motormontage, Plastikplanen zwischen den Stationen. So sieht die Arbeitswelt in den Hallen aus.
Die Betriebsärzte Jörg Lamberg und Jakob Lang geben Tipps zum Waschen der Hände – inklusive Vorschlägen zur Musikbegleitung, um die nötige Zeit richtig abzuschätzen. In der Produktion müssen die Oberflächen ständig desinfiziert werden, dazu Hygienestationen in regelmäßigen Abständen. Überhaupt Abstände: Allerorts gilt die Mindestdistanz von 1,50 Metern. Wo das nicht geht, ist Mund-Nase-Schutz sowieso Pflicht.
Betriebsrat verhindert Fieber-Scanner an den Werkstoren
Auch bei anderen Autofirmen gehören solche Maßnahmen zum Standard. Der Kampf gegen Corona führt aber hier und da auch zu einigem Zoff. Quasi durch die Hintertür hätten komplette Schichtmodelle geändert werden sollen, ist bei VW zu hören. Das machte der Betriebsrat dann doch nicht mit. Ebenso wenig ließ sich dessen Chef Bernd Osterloh darauf ein, am Werkstor automatische Fieber-Scanner aufzustellen.
Jenseits solcher Reibereien sind sie allerdings froh, weitermachen zu können. Schließlich waren allein in den deutschen VW-Werken 80.000 Menschen in Kurzarbeit, und etliche sind es noch. Der Chef der Kernmarke, Ralf Brandstätter, ist überzeugt: „Produktionsanlauf und höchste Standards beim Gesundheitsschutz sind miteinander vereinbar. Wir wollen schrittweise wieder zu stabilen Verhältnissen kommen.“
Noch sind die Verhältnisse aber alles andere als stabil. Im April stürzten die Auto-Neuzulassungen in Deutschland im Vorjahresvergleich um 61 Prozent ab, auch BMW oder Daimler müssen Investitionen straffen und Prognosen über den Haufen werfen. Die Viruskrise spiegelt sich ebenso in der Verwaltung wider, am VW-Hauptsitz wechselten 20.000 Mitarbeiter ins Homeoffice. Der Vorstand verlangte laut Betriebsrat zuerst eine „Mindest-Anwesenheitsquote“. Auch das wurde abgelehnt. Leistung sei entscheidend – „nicht irgendwelche fixen Anwesenheitsquoten“. Im privaten Büro werden zudem neue Methoden erprobt. „Auch vor Corona gab es bereits viele Möglichkeiten, digital zusammenzuarbeiten“, sagt Audis IT-Chef Frank Loydl. „Aber in den letzten Wochen hat sowohl die Akzeptanz als auch die Anwendung dieser Tools einen Push bekommen.“
Anders getaktete Normalität
Die Pandemie wird die Autobranche kräftig erschüttern. Aber sie könnte auch ein heilsamer Schock sein, um viele Dinge künftig anders zu tun. „Das, was wir in den letzten Wochen hatten, kann nicht das Ziel sein“, meint Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der im VW-Aufsichtsratspräsidium über die Strategie des größten europäischen Industriekonzerns mitentscheidet. „Wir müssen zur Normalität zurückkehren.“ Es werde indes – wie in manch anderem Lebensbereich – eine Normalität „unter anderen Bedingungen“ sein.
Der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Sebastian Dullien, meint auch mit Blick auf die Autoindustrie: „Man muss sich überlegen, wo die Wirtschaft hin soll. Wenn ich jetzt Konjunkturprogramme auflege, nehme ich natürlich vorweg, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren verhalten wird.“ Ein „transformativer Charakter“ sei wünschenswert, um „den sozial-ökologischen Wandel mit anzugehen“. Heißt: den Schrecken von Covid-19 für eine Neuorientierung nutzen.
Corona als Beschleuniger oder Blockierer des Wandels?
Dabei wissen die Fahrzeughersteller – wie auch die Energiewirtschaft – seit langem, dass das jahrzehntealte Modell steten Wachstums mit konventioneller Technik keinen Bestand haben kann. Milliarden stecken sie, obgleich ziemlich spät, in Alternativantriebe wie E-, Hybrid- oder Brennstoffzellen-Motoren und Forschungen zu synthetischem Sprit. Hinzu kommen Digitalisierung und Vernetzung, wobei die IT-Riesen aus den USA und Asien weiter übermächtig sind. Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer schätzt, dass die aktuellen Überkapazitäten wegen der Corona-Krise den Druck aus dem ohnehin schwierigen Strukturwandel nochmals erhöhen: „Wir gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren bis zu 100.000 Jobs in der deutschen Autoindustrie wegfallen.“
Ob es wirklich so arg kommt, ist nicht ausgemacht. So wirksam Corona als Beschleuniger des nötigen Umbaus sein könnte, so groß sind die Risiken. „Ein industrieweiter Wiederanlauf aus dem Stand ist Neuland für alle“, sagt Continental-Chef Elmar Degenhart. „Er wird gelingen, wenn alle Elemente der Lieferkette zugleich wieder ineinandergreifen und dabei die Sicherheit der Mitarbeiter gewährleistet ist.“
Bei dem nach Bosch weltweit zweitgrößten Autozulieferer steht die Produktion in vielen Werken rund um den Globus ebenfalls. Allein in der Bundesrepublik waren im April 30.000 Beschäftigte in Kurzarbeit, jetzt wird der Betrieb schrittweise hochgefahren. Ähnlich wie bei VW hat sich einiges in den Fabriken verändert: Plexiglaswände, versetzte Schichten, größere Sitzabstände im Pausenraum, Homeoffice wo möglich. Aber auch hier gibt es neue Ansätze, beispielsweise in der digitalen Weiterbildung. Manche Kurse wurden in ein „virtuelles Klassenzimmer“ verlegt, mehr als 50 Beschäftigte legten online schon Prüfungen ab. „Die Mitarbeiter können sich während der Arbeitszeit bei vollem Lohn weiterqualifizieren“, berichtet Conti-Personalchefin Ariane Reinhart.
Abwracken und Umsteuern
Doch die Erwartungen, es möge demnächst vieles wie früher sein, sind hoch. „Deutschland ist ein Autoland“, so VW-Chef Diess. „Sobald wieder Autos gekauft werden, kommt die Wirtschaft zurück.“ Andererseits: Der laute Ruf nach Staatshilfe bringt die Konzerne bisher nicht dazu, ernsthaft an Managerboni oder Aktionärsdividenden zu rütteln. Und noch haben zumindest die Großen Milliarden in der Kasse, die sie eine Zeitlang ohne Steuergeld über Wasser halten können. Und sind neue Verbrenner geeignet, die Industrie auf den grünen Pfad zu führen? Bei der EU machen Hersteller jedenfalls Druck auf die Vorschriften zu CO2 und Flottenverbrauch, zumal der E-Auto-Absatz noch in Fahrt kommen muss.
Am Ende könnte das Auto gar – allen Krisenszenarien und kritischen Stimmen zum Trotz – ein Revival erleben. Angst vor Ansteckung in Bus und Bahn, der Boom der Lieferdienste: Solche Faktoren dürften den Individualverkehr womöglich zusätzlich beleben, ermittelte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Auch die Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung geben sich skeptisch: „Angesichts der begrenzten Kapazität würde eine ‚Abwrackprämie‘ nicht die Gesamtproduktion sauberer Autos erhöhen, sondern den Fokus auf die Produktion konventioneller oder hybrider Autos verstärken – und damit nicht zu Investitionen in die Transformation beitragen.“
Von Jan Petermann, dpa